Muss man es im Leben zu etwas bringen?
15.11.2010

Wer überraschend einen großen Lottogewinn sein Eigen nennen kann, wird eine Zeit brauchen, bis er realisiert, was sich an ungeheuren Summen auf dem Konto tummelt. Dann wird es noch eine Weile dauern, bis der Glückspilz überlegt hat, was er mit dem Geld macht. Die Fähigkeiten, mit denen ein Mensch beschenkt ist, lassen sich natürlich nicht einfach mit einem Millionengewinn gleichsetzen. Das eine ist ein Geldbetrag, mit dem man sich und anderen etwas gönnt. Das andere ist die faszinierende, unverwechselbare Summe von Talenten, von persönlichen Gnadengaben, die einem in die Wiege gelegt wurden.

In einem Punkt aber lassen sie sich vergleichen: Das, was ein Kind an Fähigkeiten für seinen Lebensweg mitbekommen hat, ist auch wie ein riesiger Schatz, der erst einmal entdeckt werden muss und dann klug anzuwenden ist, um es zu etwas zu bringen.

"Mein Haus, mein Auto, mein Boot..."

Die gesellschaftlich weithin anerkannten Insignien des Lebenserfolges aber sind eher fragwürdig. "Mein Haus, mein Auto, mein Boot...", das kann auch ein Drogendealer oder ein Waffenschieber sagen. Haben sie es wirklich zu etwas gebracht? Was ist denn dieses "Etwas", zu dem ein Mensch "es" bringen soll? Und wozu? Der Maßstab für das, was ein tatsächlich gelungenes Leben ist, die Kriterien dafür, ob es jemand zu etwas gebracht hat, müssen von jedem Menschen in Übereinstimmung mit sich selbst und mit anderen erst gefunden werden. Das ist gar nicht so leicht.

Wie kriegt man es hin, "mit den eigenen Pfunden zu wuchern", wie es die Bibel ausdrückt, seine Talente nicht zu vergraben, sondern sie zu nutzen? "Machen Sie das Beste aus Ihrem Typ", locken Frauenzeitschriften und versprechen mit dem neuen Look auch mehr Selbstbewusstsein und Erfolg. Visagisten und Stylisten tummeln sich um Leserinnen und holen optisch heraus, was alles in ihnen steckt. Das ruft meist Entzücken hervor. Manchmal fragt man sich aber: Wo ist die ungewöhnliche Frau hin, die zur Typberatung kam? Jetzt sieht sie so aus, wie "frau" auszusehen hat.

Schulen bieten die Möglichkeit, mathematische, sprachliche, musische und praktische Fähigkeiten zu entfalten. Eine schöne Sache, wenn Kinder und Jugendliche die Chance bekommen zu verwirklichen, was in ihnen angelegt ist. Aber da gibt es den 16-Jährigen, der sich auf dem Gymnasium verzweifelt mit Fremdsprachen herumschlägt, schlechte Noten einheimst, Nachhilfe bekommt und schweißgebadet die nächste Prüfung angeht. Die Eltern wollen, dass er es im Leben zu etwas bringt, einen anerkannten Beruf ergreift und gutes Geld verdient. Sein Traum aber ist es, Truckerfahrer zu werden. Lächerlich? Keinesfalls.

"Genug ist nicht genug...genug kann nie genügen"

Man kann kleine und große Menschen kaputtmachen, wenn man sie mit riesigen Leistungskatalogen überfordert, sie unaufhörlich verbessern will und nie so sein lässt, wie sie sind ­ mit dem, was sie vermögen, und allem, was sie eben nicht können. Konstantin Weckers berühmte Liedzeile "Genug ist nicht genug...genug kann nie genügen" mag im Blick auf die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände befolgenswert sein, als Devise für das einzelne Leben wäre sie eine glatte Katastrophe. Über sich selbst hinauswachsen, sich selbst übertreffen ­ das klingt gut, ist aber auf Dauer unmenschlich.

Gnadenlos ist, andere beständig zu drängen, mit ihrem Aussehen und ihrer Ausbildung, mit ihrem Beruf und Verdienst, sogar in ihrer Partnerwahl den Erwartungen anderer zu entsprechen ­ so lange, bis sie den fremden Anspruch zum eigenen machen und daran zu Grunde gehen. Ikarus, die griechische Sagengestalt, erhob sich mit einem Paar Federflügel aus der irdischen Gefangenschaft und flog in die Freiheit. Statt sie in dem für ihn möglichen Rahmen zu genießen, stieg er höher und höher und kam der Sonne zu nahe. Das Wachs, das die Federn zusammenhielt, schmolz. Ikarus stürzte in den Tod.

Umgekehrt ist es beleidigend, jemanden zu unterfordern, ihn abzuqualifizieren mit den Worten: "Du wirst es nie zu etwas bringen." Mancher Mann, manche Frau hat sich erst spät und unter Mühen aneignen können, was vermeintlich besser wissende Eltern oder Pädagogen ihnen als Fähigkeit abgesprochen haben: "Du kannst nicht malen", "du hast zwei linke Hände", "lass mich machen, dann geht's schneller" ­ das sind Killersätze, die verhindern, dass ein Mensch auf eine fröhliche und selbstbewusste Entdeckungsreise mit sich selbst geht.

"Wie ein Igel, der sich mit gespreizten Stacheln in sich selbst zusammenrollt"

Chancen dürfen nicht vertan, eigene Begabungen nicht bloß konserviert werden. Schade um handwerkliches Geschick, um Redegewandtheit oder die Gabe zuzuhören und zu schweigen, wenn nichts davon zum eigenen Wohl und zu dem anderer praktiziert wird. Wer sich und seine Entwicklung verhindert, unternimmt genau genommen einen Affront gegen den Schöpfer. Er (ver-)schmäht, was ihm anvertraut wurde, verbummelt träge die schönsten Möglichkeiten des eigenen Daseins. Er verhält sich, so ein Theologe, "wie ein Igel, der sich mit gespreizten Stacheln in sich selbst zusammenrollt".

Mit den eigenen Pfunden frei und verantwortlich zu wuchern, das ist wunderbare Möglichkeit und lebenslange Aufgabe zugleich. Und niemand sollte einen daran hindern, es irgendwann auch gut sein zu lassen und so richtig rundherum mit sich zufrieden zu sein ­ zu Hause, hinter einer Theke, an einem Schreibtisch oder im Truck.

 

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