Oder tötet das Aufrechnen jede Beziehung?
15.11.2010

Bei einem Boxer spricht man gerne von "Nehmerqualitäten". Zu den herausragenden Eigenschaften starker Männer im Ring zählt die Fähigkeit einzustecken, ohne das (Selbst-) Bewusstsein zu verlieren. Nehmen gilt als schwer; geben, austeilen dagegen scheint leichter. Das Leben ein Boxmatch? Wohl kaum. Aber den richtigen Nehmer- und Geberqualitäten könnte man schon mal genauer nachgehen. Als kleines Mädchen etwa musste ich häufig die bestens erhaltenen, aber getragenen Kleidungsstücke der Kinder wohl situierter Bekannter auftragen. Eine Qual für mich, jedes Mal auch noch "danke schön" sagen zu müssen, wiewohl ich mir gern selbst etwas zum Anziehen ausgesucht hätte. Damals ging es halt nicht anders, weil das Geld bei uns zu Hause mehr als knapp war.

Nehmen ist gar nicht so einfach

Gelernt habe ich, dass man Menschen mit seinen Gaben, mit dem, was man austeilt, beschämen kann, auch wenn man es ­- wie unsere reichen Bekannten -­ wirklich so richtig gut meint. Nehmen ist gar nicht so einfach, wenn man dadurch in eine hilflose Rolle hineinkommt, in der man selber nichts anderes tun kann als zu akzeptieren, was einem in die Hände gedrückt wird. Es wundert mich deshalb auch nicht, dass in Kleiderkammern der Diakonie für gebrauchte Kleidung oft eine kleine Summe von den wenig betuchten Kundinnen genommen wird oder dass bei den so genannten "Tafeln" für einen symbolischen Preis Lebensmittel an Bedürftige ausgegeben werden. Das hat sehr viel mit der Achtung vor der Würde anderer Menschen zu tun. Wer Hilfe braucht, möchte sich nicht als bloßes Objekt großmütig ausgeteilter Almosen verstehen müssen. Nehmerqualitäten fallen schwer, wenn man das Gegebene nicht angemessen oder wenigstens andeutungsweise mit eigenen Mitteln beantworten kann.

Ephraim Kishon hat das Problem in seinen Satiren von der komischen Seite aufs Korn genommen. Entweder wird dort eine Pralinenschachtel jahrelang weitergereicht, bis sie, in entsprechendem "innerem" Zustand wieder beim ursprünglichen Geber anlandet. Oder zwei, die den Wert ihrer Geschenke stets gegeneinander aufrechnen, jagen einander mit immer großartigeren Präsenten, bis sie nur noch an Flucht denken, sobald sie einander von weitem sehen.

Geben gibt Selbstwertgefühl

Selbst in einer Zeit, in der der dümmliche Spruch "Geiz ist geil" kursiert, fällt es offensichtlich leichter, geben zu können als zu nehmen oder gar nehmen zu müssen. Geben hat etwas mit haben zu tun und haben ist heute wichtig. Wer gibt, hat: Geld und Güter. Geben gibt, nämlich Selbstwertgefühl. Wer nimmt, hat nicht selbst, er braucht etwas und scheint dadurch dem Habenden unterlegen. Nehmen, so wird es manchmal empfunden, nimmt ­ und zwar den Stolz. Besonders dann, wenn einer von oben herab gibt. Dann tut seine Gabe weh. Sie provoziert vielleicht sogar Hass, weil man aus der Not heraus nicht anders kann, als Geld, Unterstützung oder auch Zeit anzunehmen, ohne sich je revanchieren zu können.

Der Schriftsteller Oliver Goldsmith hat dieses Lebensgefühl auf einen Nenner gebracht: "Geben ­ sollte unser Vergnügen sein, doch empfangen ­ unsere Schande." Mit Verlaub: Das ist ausgemachter Unsinn. Unser Leben beginnt mit dem Nehmen, damit, sich selbst und was man hat, anderen zu verdanken. Wenn man das begriffen und vor allem erlebt hat, dann kann man auch geben. Nur ein Mensch, der in der Lage ist, auch später in seinem Dasein immer wieder etwas annehmen zu können, vermag selber so recht von Herzen, ohne jedes berechnende Kalkül, zu geben. Wer umgekehrt nicht nehmen kann, der meistert auch das Geben nicht.

Es ist notwendig, neue menschliche Nehmer- und Geberqualitäten zu entwickeln. Bei palästinensischen Christen habe ich fürstliche Bewirtung erlebt: Die Familie hat für die Gäste alles aufgetischt, was zu haben war, und anschließend bescheiden von den Resten gelebt. Es wäre herrisch gewesen, darauf mit überzogenen Gastgeschenken zu reagieren nach dem Motto: Jetzt haben die Ärmsten eine Woche an dieser Einladung ­ im Wortsinn ­ zu knabbern, wir wollen mal für Ausgleich sorgen. Nehmen und fröhlich genießen war gefragt, sonst nichts. Aufrechnen ist in jeder Form das Ende der Zuneigung.

Freundschaften brauchen kein stetes wirtschaftliches Gleichgewicht

Freundschaften brauchen kein stetes wirtschaftliches und geistiges Gleichgewicht. Eine Balance von Geben und Nehmen kann es dann geben, wenn der, der gibt, es tut, ohne sich aufzuspielen, voller Respekt für andere. Jesus hat seinen zunächst widerstrebenden Freunden und Freundinnen hingebungsvoll die Füße gewaschen ­ große Geste eines großen Mannes. Geben und sich dabei anderen spürbar hinzugeben macht es leichter, Geschenke, Gaben, auch Hilfe anzunehmen. Mehr noch: Wer merkt, dass der Gebende selig ist, weil er geben kann, wird frohgemut nehmen können.

Aufrechnen, was einer gesagt, getan, gegeben oder auch nicht gegeben hat, tötet jede Beziehung. Geber- und Nehmerqualitäten lassen sich nicht nach Punkten und K.-o.-Siegen bemessen. Freunde in ein schickes Restaurant einzuladen, das man sich locker leisten kann, ist so schön wie zum Geburtstag eine selbst gemachte köstliche Marmelade zu bekommen. Zwei Stunden als Seelentröster bei Liebeskummer zu agieren ist so kostbar wie der Gutschein für das Wochenende auf der Beauty-Farm oder ein gemeinsamer Waldspaziergang. Es braucht keine ausgewogenen Bilanzen, um einander wirklich gewogen zu sein -­ nur die Liebe zu geben und die Lust zu nehmen.

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