Gerechtigkeit gelingt nicht immer.
15.11.2010

"Das ist Paul", sagt der vierjährige Henrik immer, wenn Besuch kommt, um das Baby der Familie zu bewundern. "Er ist süß, aber er kann nicht sprechen." Ein intelligenter Umgang des älteren Bruders damit, dass der Jüngere naturgemäß Entzücken bei allen Freunden und Verwandten auslöst, weil er noch so klein und niedlich ist. Henrik ist fair und kann diesen Platzvorteil dem kleinen Paul überlassen. Er versteht es zugleich, seine eigenen Fähigkeiten hervorzuheben: Er selbst kann bereits sprechen ­ und wie! Ganz gleich, wie viel eigenständige Weisheit dem Kindermund regelmäßig entströmt: In diesem Fall macht es die Zuneigung der Eltern möglich, dass so ein pfiffiger Satz laut werden kann. Sie lieben ihre beiden Kinder gleichermaßen. Aber sie gehen auch auf ihre Unterschiede ein: Jeder Sohn wird für das geschätzt, was er gerade ist.

"Er ist süß, aber er kann nicht sprechen."

Es ist pure Ideologie, wenn Väter und Mütter bei ihren Kindern ­- scheinbar um der Gerechtigkeit willen -­ möglichst keinen Unterschied machen. Da sollen die Älteren nur wenig später ins Bett als die Jüngsten, weil die sich sonst zurückgesetzt fühlen könnten. Manches Kind wünscht sich sehnlichst einen Computer, muss aber so lange warten, bis das Geschwister auch mit einem technischen Gerät umgehen kann. Kriegt der eine ein neues Kleidungsstück, muss die andere auch eins bekommen, selbst wenn sie es gar nicht braucht. Klar, dass das Frust auslöst bei den einen und unnötige Triumphgefühle bei den anderen. Warum sollten Kinder nicht von klein auf lernen, dass es berechtigte Unterschiede gibt? Wer keine Tomaten mag, der soll sie ja auch nicht essen müssen, selbst wenn der andere sie zur Lieblingsspeise erkoren hat.

Kinder sind nicht gleich

Kinder sind nicht gleich, jedes von ihnen ist ein wunderbares, unverwechselbares Unikat ­ und sie brauchen einen individuellen Umgang, der ihr Alter, ihre Eigenschaften und Fähigkeiten genauso respektiert wie ihre Bedürfnisse und Schwächen. Nur so können sie selber begreifen, dass jeder Mensch, ob groß oder klein, es verdient, ganz persönlich wahrgenommen und geachtet zu werden. Familien mit behinderten Kindern machen oft einen langen Lernprozess miteinander durch, bis alle verstanden haben und auch danach leben: Dieses eine behinderte Menschenkind braucht besondere Zuwendung, verlangt zu Recht erhöhte Aufmerksamkeit und manchen Verzicht. Und jedes nicht behinderte Kind muss nicht nur zurückstecken, sondern darf zugleich eigenen Raum und Aufmerksamkeit für sich beanspruchen.

Fatal wäre es, wenn Eltern eines zu ihrem Lieblingskind machen, weil es genau ihren Vorstellungen davon entspricht, wie ein Kind sein sollte: wenig anstrengend, hübsch, intelligent, kommunikativ, erfolgreich in der Schule, später im Beruf und in der Partnerwahl. Man spürt es an Kleinigkeiten, wenn man selber unter "ferner liefen" gezählt wird. Da wird dem anderen rasch ein Geldschein zugesteckt, jemand bekommt das extra Kuchenstück, und wenn die Eltern über die hervorragenden Noten des Bruders oder das exzellente Klavierspiel der Schwester reden, hört man den besonderen Stolz heraus. Es schmerzt Kinder ein Leben lang, wenn sie in ihrer eigenen Art missachtet wurden. Und demjenigen, der bevorzugt wird, tut es überhaupt nicht gut.

In der Bibel wird davon erzählt, wie die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn die Brüder eifersüchtig und schließlich stocksauer macht. Jakob mag Josef deswegen so sehr, weil er von seiner Lieblingsfrau stammt und noch in hohem Alter gezeugt wurde. Jakob liebt den Sohn also weniger um seinetwillen, sondern eher aus Egoismus. Josef entwickelt sich zu einer Petze, wird überheblich und erzählt seinen Brüdern von Träumen, in denen sie sich als Sterne zusammen mit Sonne und Mond, den Eltern, vor ihm verneigen. Das ärgert dann den Vater auch ein bisschen, aber zu spät: Die Brüder, geplagt von Mordgelüsten, verkaufen den kleinen Schnösel nach Ägypten. Nicht gerade die Methode der Wahl, aber psychologisch gesehen verständlich: Sie versuchen sich von dem zu befreien, der ihnen Liebe nimmt und sie an den Rand drängt.

"Hätschel"

Josef macht in der Fremde eine harte Lehre durch, bis er und seine Brüder sich tränenreich wieder in die Arme sinken. Versöhnung unter Geschwistern und Eltern ist möglich. Auch in den Fällen, in denen Vater oder Mutter einem Kind den deutlichen Vorzug geben, statt allen Geschwistern mit der gleichen Achtsamkeit und Zuwendung zu begegnen. Es mag sein, dass Gerechtigkeit nicht immer gelingt. Dann tut es gut, wenn Kinder spüren, dass Vater und Mutter nachdenken über ihr Handeln, dass sie bereit sind, ihre Haltung zu überdenken und Fehler zuzugeben. Jeder wird es seinen Eltern danken, wenn sie auf Gefühle und Reaktionen ihrer Kleinen und Großen achten und sie ernst nehmen als eigenständige Personen.

Ich kenne übrigens eine Familie, in der die Rolle des besonders bevorzugten Familienmitglieds, fröhlich "Hätschel" genannt, durchwechselt. Alle wissen, sie werden genau dann besonders gehätschelt, wenn sie es gerade dringend brauchen. Und das kann auch mal Vater oder Mutter treffen.

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