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Als mein Vater schwer krank war, kümmerte sich meine Mutter aufopferungsvoll um ihn. Sie stellte sämtliche Bedürfnisse hinter die seinen zurück und wurde von aller Welt dafür hoch geachtet. Mich forderte sie auf, es ihr gleichzutun: Gerade mal Studentin und gespannt auf die große, hundert Kilometer entfernte Stadt, sollte ich jede freie Minute zu Hause verbringen. Ich bin "gefolgt" - mit der Folge, dass ich kein eigenes Leben außer in den Vorlesungen hatte. Als mein Vater gestorben war, kümmerte ich mich in der gleichen Weise sechs Jahre lang um meine verwitwete Mutter, deren Lebenssinn mit dem Tod meines Vaters dahin war. Schließlich wurde sie selbst, genau wie ich im selben Jahr, schwer krank. Sie unterlag im Kampf gegen ihre Krankheit, den sie mit aller Kraft führte.
Es gibt Menschen, die verdrängen, was andere von ihnen an Hilfe bräuchten. Sie haben Angst vor den Tiefen des Lebens, davor, dass sie selbst irgendwann davon betroffen sein könnten. Lieber immer gut drauf sein, solange es geht. Von meiner Mutter habe ich beeindruckend gelernt, einem anderen alle Liebe und Fürsorge angedeihen zu lassen, derer er bedarf. Nachdenklich macht mich, dass sie ihr und mein Leben riskiert hat, um für ihren Mann ohne jede Unterbrechung da zu sein. Ich wünschte, sie hätte sich gelegentlich Hilfe geholt, um eine Pause zu machen - um sich ein paar Momente der Entspannung, des kleinen Glücks zu gönnen. Man muss die Einsicht erst zulassen, dass jeder Mensch das Recht besitzt auf ein eigenes Leben, auch wenn er Verpflichtungen hat, die er "liebend" gerne erfüllt.
Kann man den anderen ein paar Stunden allein lassen?
Denn schnell tauchen Schuldgefühle auf. Man hat gelacht, ein Glas Wein getrunken, war im Kino oder Theater. Darf man das, wenn der Mann krank ist, die Freundin fürchterlichen Liebeskummer hat? Kann man den anderen ein paar Stunden allein oder in fremder Gesellschaft lassen? Ist das nicht unanständig sich womöglich zu amüsieren, wenn andere sich plagen? Solche Gedanken sind verständlich, weil sie zeigen, wie ernst es einem mit der Nächstenliebe ist, mit der zärtlichen Zuwendung, die jemand nötig hat und vielleicht sogar energisch für sich reklamiert. In der Bibel ist die Liebe zum anderen und zu Gott unauflöslich verbunden mit der zu sich selbst. Alle drei sind einander gleich. Daraus spricht Lebensweisheit - ganz grundsätzliche und durchaus auch pragmatische.
Ein Mensch hat mehr Kraft, einem anderen beizustehen, wenn er sich immer wieder einmal Luft verschafft, sich Energie von dort holt, wo er sie herbekommen kann: von einem Spaziergang oder Gottesdienstbesuch, vom Plausch im Café, dem Spieleabend oder Essen mit Freunden, dem spontanen Abend ganz allein irgendwo in der Stadt. Das hilft, sich auf sich selbst zu besinnen, sich wieder körperlich und seelisch ein wenig auszudehnen in Zeiten, die einen angespannt und verkrümmt sein lassen. Man kommt zurück zu dem, der einen braucht, und kann sich ihm ganz neu widmen. Aber es geht nicht nur darum, einsatzfähig zu sein. Es geht um Selbsterhaltung, darum, das Geschenk des eigenen Lebens genauso zu würdigen und zu achten wie das anderer.
"Ich lebe und ihr sollt auch leben"
Die Jahreslosung für 2008 stammt aus dem Johannesevangelium - ein Jesuswort. Der Gottessohn sagt: "Ich lebe und ihr sollt auch leben" (Johannes 14,19). Mir hat das jemand als Satz ins Herz "gebrannt", als ich, aufgezehrt von der jahrelangen Rücksichtslosigkeit mir selbst gegenüber, als junge Frau selbst todkrank war. Leben: Das ist eine Aufgabe, die man niemals aufgeben, sondern meistern sollte - mit anderen Menschen, für sie und nicht zuletzt für sich selbst.