Oder dürfen Eltern auch Dankbarkeit erwarten?
15.11.2010

Ach, was habe ich sie gehasst, diese Dankesbriefe, die ich als Kind nach Weihnachten an Omas, Onkels und Tanten zu schreiben hatte. Dankesbriefe mit immer wieder ähnlich geistvollem Inhalt: "Ich habe mich sehr/riesig gefreut über... Du hast mir mit... eine große/riesige Freude gemacht. Wie geht es euch? Mir geht es gut. Die Schule macht mir viel Spaß." Die Lücken wurden gefüllt mit dem, was man eben so bekommen hatte ­ Bücher, Räuchermännchen, bestickte Taschentücher. Meine Eltern legten Wert darauf, dass ich mit sorgfältig hingemalten Buchstaben einer Dankbarkeit Ausdruck verlieh, die zu empfinden mir ­ außer bei jeder Art von Literatur ­ oft schwer fiel. Nicht alles fand mein kindliches Gefallen, vor allem gebrauchte Kleidung nicht, obwohl wir sie sehr nötig hatten. Ob ich mich nun wirklich freute oder weniger: Es half nichts, ich musste mich bedanken.

Es half nichts, ich musste mich bedanken.

Und heute? Heute ärgere ich mich, wenn ich einen anderen Autofahrer vorbeigelassen habe und der mit keiner Geste zu erkennen gibt, dass er sich darüber freut. Ich finde es empörend, wenn ich jemandem die Tür aufhalte, die Uhrzeit sage oder den Weg zeige und es dafür kein Dankeschön gibt. Längst habe ich begriffen, dass meine Eltern ein hehres Erziehungsziel verfolgten: ihrem Kind beizubringen, dass nur menschliche Büffel über die Freundlichkeit anderer hinwegtrampeln. Sich dankbar zu zeigen ist dagegen ein Zeichen von Stil- und Formbewusstsein, mehr noch: von Wertschätzung anderer.

Allerdings gibt es eine Dankbarkeit, die über Respekt und gute Manieren weit hinausreicht. Auf diese besteht kein Anrecht, und man kann sie auch nicht fordern -­ wie gerade Eltern oft schmerzvoll erfahren müssen. Dankbarkeit fällt einem dann schwer, wenn man den Eindruck hat, dass Eltern das, was sie für einen machen, nicht selbstlos tun, sondern um etwas zu bekommen. Es gibt Geschenke oder Verhaltensweisen, bei denen dem Gebenden die Erwartung förmlich ins Gesicht geschrieben steht: "Schau, was ich dir gekauft, gebacken, geschreinert, wie ich für dich geputzt habe." Wenn alles darauf angelegt ist, Dankbarkeit hervorzurufen, dann kann und will der solchermaßen beglückte Mensch sie nicht zeigen. Der Schriftsteller Mark Twain hat einmal gesagt: "Tatsächlich ist die Dankbarkeit eine Schuld, die gewöhnlich sogar anwächst; darin gleicht sie der Erpressung: je mehr man bezahlt, desto mehr wird gefordert." Erwartete, geforderte, ja erpresste Dankbarkeit ist nichts wert, genauso wenig wie Gaben, die man sich nur ausdenkt, um die Sympathie des anderen zu gewinnen.

Dankbarkeit fällt auch schwer, wenn man spürt, dass hinter der Forderung nach Dankbarkeit Unzufriedenheit steckt ­ damit, wie das Leben der Eltern verlaufen ist. Wenigstens Dankbarkeit der Kinder soll herauskommen, wenn schon so viele eigene Pläne gescheitert, so viele Hoffnungen geplatzt sind. Man fühlt sich dann als Kind oder noch als Erwachsene verantwortlich für Stimmung und Lebensgefühl der Eltern. Das ist eine Last, die bestimmt keine Dankbarkeit erzeugt. Aber können Eltern nicht wenigstens Dankbarkeit für ihre Lebensleistung erwarten, für alles, was sie ihren Sprösslingen Gutes getan haben? Je jünger man ist, desto weniger kann man nachvollziehen, was Vater und Mutter für den Nachwuchs aufgegeben, wie sie sich nach Leibeskräften eingesetzt haben, damit dem die Welt offen steht. Um das zu begreifen, muss man selbst älter werden und erfahren, wie wenig selbstverständlich ein gutes Fundament fürs Leben ist.

Dankbarkeit kann man nicht erwarten, wie eine Tageszeitung

Dankbarkeit kann man nicht erwarten, wie man die Morgenzeitung im Briefkasten erwartet. Das Rechnen mit Dankbarkeit lässt echte Dankbarkeit nicht aufkommen. Was haben Eltern davon, wenn ihre Kinder sich schuldig fühlen, weil sie das erwartete Verhalten nicht an den Tag legen? Das Wort "danken" kommt von "denken", "gedenken". Echte Dankbarkeit hat immer mit Erinnerung zu tun. Ich kenne viele Väter und Mütter ­ meine Schwiegereltern gehören dazu ­, die nicht aufzählen, was sie unter großen Mühen für ihre Kinder getan haben, und einem damit nicht die Pistole auf die Brust setzen. Sie reden dagegen manchmal von sich, sie erzählen aus ihrem Leben so, dass man sich einfühlen kann in das, was sie erlebt und erlitten haben. Man kann über Jahre hinweg allmählich begreifen, warum sie manches getan und anderes gelassen, vielleicht sogar unterlassen haben.

Solche Nähe macht es möglich, dass Dankbarkeit wächst für empfangene Liebe, für Geborgenheit und den Start in ein selbstständiges Leben, alles Dinge, die man sich selbst nicht geben kann. Dankbarkeit gegenüber den Eltern kommt aus dem Gefühl, dass das, was sie sich an Gutem haben einfallen lassen, aus Liebe heraus geschehen ist und noch geschieht. Um des Kindes willen, und auch um der eigenen Zufriedenheit willen, natürlich ­ aber nicht, um dafür etwas zu bekommen. Diese ehrliche Dankbarkeit, die für Eltern das schönste Geschenk ist, bleibt auch dann bestehen, wenn ausgesprochen werden darf, was in der gemeinsamen Geschichte nicht so gelungen war, wo Fehler gemacht worden sind. Tief empfundene, erwachsene Dankbarkeit hat ein weites Herz.

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