Das ist ein Motto, das Menschen ersticken, ihnen die Luft zum Weiterleben nehmen kann
15.11.2010

Stumm sitzt die Familie der Pfarrerin gegenüber. Mühsam sucht sie nach Worten, um den verstorbenen Vater zu beschreiben. Fleißig war er. Um seine Familie hat er sich gesorgt. Durch schwere Zeiten musste er durch, damals im Krieg. Allmählich kommt das Gespräch in Gang. Kleine Anekdoten aus dem Leben des Verstorbenen bekommt die Pfarrerin zu hören; hie und da schleicht sich sogar ein Lächeln auf das Gesicht der Witwe und ihrer Kinder. Dann, auf einmal, bricht es aus der Tochter heraus: "Immer musste er recht haben! Wie oft hat er mir eine Ohrfeige verpasst und mich eine Versagerin genannt, weil ich nicht so war, wie er wollte! " Die Mutter erschrickt. Es ist zwar wahr, was die Tochter sagt. Aber darf man das, so über einen Toten reden, der noch nicht einmal unter der Erde ist?

Darf man das, so über einen Toten reden?

Man darf. Es muss ja nicht alles veröffentlicht werden, weder am Grab noch später. Aber unter vier, acht oder mehr Augen und Ohren soll und kann die Geschichte, die jeder Mensch hat, erzählt werden. Eine der ersten Gelegenheiten dazu ergibt sich im Trauergespräch mit einem Seelsorger oder einer Seelsorgerin. Vor ihnen kann ausgebreitet werden, was diesen einen Menschen ausgemacht hat, der von einem gegangen ist - seine Sonnen- und die Schattenseiten. Je aufrichtiger und ehrlicher man von Verstorbenen spricht, desto mehr werden sie in ihrer persönlichen Wahrheit gewürdigt. Was man denkt, fühlt und sagt, zornig vielleicht, vorwurfsvoll, verletzt, das lässt sich behutsam miteinander bereden. Gemeinsam überlegt man dann, was in die Trauerfeier hineingehört und was nicht.

Nach Wochen, Monaten oder Jahren noch fällt einem ein, was man selbst versäumt und natürlich womit einen der oder die Verstorbene jemals gekränkt, beleidigt hat - was er einem schuldig geblieben oder womit er schuldig geworden ist. Da gibt es den Mann, dessen unendlich tüchtige Frau ihn regelmäßig vor anderen niedergemacht hat. Die Mutter, die einen geprügelt hat, oder den Onkel, der gemeine Witze über die Figur der Nichte zu machen pflegte. Längst nicht immer finden Hinterbliebene die Kraft, bald auszusprechen, was alles geschehen ist. Es ist nur notwendig, dass es ihnen irgendwann gelingt - vielleicht auch mit Hilfe von anderen, die ihnen Mut dazu machen. Denn "Über die Toten nichts, nur Gutes", das ist ein Motto, das Lebende ersticken, ihnen die Luft und den Elan zum Weiterleben nehmen kann.

Irgendwann muss es heraus: Das Gute wie das Schlechte

Irgendwann muss es heraus: das Gute wie das Schlechte, das zu einem Menschen gehört hat. Niemand soll glauben, das dürfe, wenn überhaupt, erst sehr spät geschehen. Es gibt keine "falsche", keine "richtige" Trauerarbeit. Man muss sich und anderen den eigenen Weg zugestehen - auch wenn es darum geht, Schwierigkeiten und Konflikte mit Verstorbenen auszusprechen. Weil Trauer so individuell ist wie die Menschen, die trauern, hat jeder das Recht, die Last, die ihm auf der Seele liegt, abzuladen. Der richtige Zeitpunkt, sich auszusprechen, ist der, an dem man selbst das Gefühl hat, nicht mehr schweigen zu können und zu wollen. Dann braucht es, egal wann, Raum und Zeit, um sich von der Seele reden, erzählen zu können, was gewesen ist.

"Keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber", heißt es in einem Bibelwort (Römer 14, 7). Das bedeutet: Leben ist Beziehung - zu denen, die man lieb hat oder auch nicht. Zu Gott, an den man glaubt oder den man ablehnt. Jede Beziehung ist nur dann von Wert, wenn sie aufrichtig ist. Auch diejenigen, die von einem gehen, die gestorben sind, verdienen es, dass man sie würdigt - mit dem, was ihnen gelungen ist, und mit allem, woran sie gescheitert sind. Das ist man ihnen und sich selber schuldig.

 

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