Moral ist eine Zumutung
Sich für Schwache ein­setzen ‒ ja, nein, vielleicht? Muss jeder für sich klären. Oft macht es jedenfalls glücklich.
Thomas Meyer/Ostkreuz
28.03.2019

Vorgelesen: Auf ein Wort "Moral ist eine Zumutung "

Das Wort Moral ist in Verruf geraten. Manchmal zu Recht. Aber neuerdings wird die Moral auch unter Beschuss genommen, wenn es um den Einsatz für Menschen in Not geht. Schon der Hinweis auf die skandalöse Lage der Flüchtlinge, die im Mittelmeer dem Tod durch Ertrinken ausgesetzt werden, wird als Indiz für eine "Hypermoral" gesehen. Geht’s noch? Sollen jetzt nicht mehr diejenigen das Problem sein, die rücksichtslos über das Schicksal anderer hinweggehen, sondern die­jenigen, die auf die Not anderer hinweisen und dazu aufrufen, diese Not zu überwinden?

Thomas Meyer/Ostkreuz

Heinrich Bedford-Strohm

Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Jahrgang 1960, ist seit 2011 Landes­bischof der Evangelisch-Lutherischen ­Kirche in Bayern. Bis November 2021 war er Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Herausgeber des Magazins chrismon. Bevor er Bischof wurde, war er an der Universität Bamberg Professor für Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen.

Die einfachste Methode, das Wort Moral unter Verdacht zu stellen, ist, noch einen "ismus" anzuhängen. Moralismus findet niemand gut. Moralismus ist belehrend, besser­wisserisch, selbstgerecht, sauertöpfisch und verbietet ­alles, was Spaß macht. Moralismus ist etwas Grauenhaftes. Aber sich über moralische Verpflichtungen Rechenschaft abzulegen und sich immer wieder kritisch selbst zu prüfen, das ist eine zivilisatorische Errungenschaft.

Das für unsere moralischen Maßstäbe nach wie vor prägende Christentum mutet uns dabei einiges zu. Jeder Mensch ist geschaffen nach dem Bilde Gottes – so heißt es in der Schöpfungsgeschichte im ersten Buch Mose. Und schon die Grund­orientierungen in den ältesten Rechtstraditionen des Alten Testaments, die etwa von den Propheten leidenschaftlich eingeklagt werden, schärfen die besondere Verpflichtung gegenüber den Schwachen ein. Christus spricht in ­der ­Vision vom Weltgericht von den Hungrigen, den ­Durstigen, den Fremden, den Nackten, den Kranken und den Gefangenen und fügt an: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Verdrängung funktioniert nicht

Es gibt verschiedene Wege, mit diesen Zumutungen umzugehen. Eine Möglichkeit: Wir versuchen, diejenigen in Not aus unserem Blickfeld herauszuhalten, die solche moralischen Verpflichtungen in uns wachrufen. Aber wie soll Verdrängung in einer globalisierten Welt gehen, in der das Leid der Welt über die Fernsehbildschirme oder das Internet bis in jedes Wohnzimmer dringt?
Ein anderer Weg besteht darin, die Ansprüche zu verwässern. Wir Menschen sind sehr kreativ auf diesem Weg: Durch allerlei passende Interpretationen schrumpfen wir die moralischen Maßstäbe so weit, dass sie bequem zu uns passen. Der Universalismus des Christentums wird dann zur moralischen Verpflichtung nur denen gegenüber, mit denen wir direkt zusammenleben.

Einen dritten Weg nenne ich die Vergesetzlichung. Wir verstehen die moralischen Maßstäbe als ein zu erfüllendes Gesetz. Wo wir es nicht erfüllen, plagt uns das schlechte Gewissen. Dass dieser Weg zum Scheitern verurteilt ist, hat schon Martin Luther erfahren. Die Maximierung seines moralischen Punktekontos durch allerlei gute Werke hatte dem späteren Reformator keine innere Freiheit verschafft, sondern ihn im Gegenteil in tiefe Depression gestürzt.

Wir ­nehmen unsere moralischen Maßstäbe ernst

Luther hat einen neuen Weg für sich entdeckt. Ich ­nenne ihn, wie Luther selbst auch, den Weg der Freiheit. Wir ­nehmen unsere moralischen Maßstäbe ernst. Wir ver­suchen, nach ihnen zu leben. Aber nicht aus schlechtem ­Gewissen, aus Angst oder aus Hochmut. Sondern aus Freiheit heraus, weil wir uns von Grund auf geliebt und angenommen wissen.

Wer erfahren hat, was Vergebung heißt, kann selbst leichter vergeben. Wenn wir uns gehalten ­wissen, haben wir Kraft für andere Menschen. Luther nannte das die "Freiheit eines Christenmenschen". Aus ihr heraus setzen wir uns von ganzem Herzen für eine Welt ein, in der alle Menschen in Würde leben können. Moralisches Handeln aus Freiheit und nicht aus Zwang wird zum Nährboden für ein glückliches und erfülltes Leben.

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Zitat: "Wir ­nehmen unsere moralischen Maßstäbe ernst. Luther hat einen neuen Weg für sich entdeckt. Ich ­nenne ihn, wie Luther selbst auch, den Weg der Freiheit. Wir ­nehmen unsere moralischen Maßstäbe ernst. Wir ver­suchen, nach ihnen zu leben. Aber nicht aus schlechtem ­Gewissen, aus Angst oder aus Hochmut. Sondern aus Freiheit heraus, weil wir uns von Grund auf geliebt und angenommen wissen. Wer erfahren hat, was Vergebung heißt, 
kann selbst leichter vergeben. Wenn wir uns gehalten ­wissen, haben wir Kraft für andere Menschen. Luther nannte das die "Freiheit eines Christenmenschen". Aus ihr heraus setzen wir uns von ganzem Herzen für eine Welt ein, 
in der alle Menschen in Würde leben können. Moralisches Handeln aus Freiheit und nicht aus Zwang wird zum Nährboden für ein glückliches und erfülltes Leben".

So wunderschön war die Welt noch nie. Eine sehr gute Übersicht aller schönen Ansichten und guten Absichten. Über Allem schwebt was sein müßte und Allem wohnt inne die Macht der gottgewollten menschlichen Schwächen.

Die ganz subtile Frage: Und was nun? Wer möchte, zumindest öffentlich, etwas Anderes? Fazit: Die von Gott gewollte Menschlichkeit ist brutal und Jesus war ihr Reparateur. Wer kann diesen Widerspruch überzeugend und leicht verständlich auflösen?