Christina Lux
Man muss Texte lesen lernen. Sonst könnte es sein, dass aus ihnen eine Waffe wird – oder ein Instrument für Besserwisser
Präses der ev. Kirche Westfalen, Annette KurschusBarbara Frommann
21.04.2015

Papier ist geduldig, lautet ein Sprichwort. Wieso das? Gemeint ist wohl: Es klafft ein Riss zwischen dem, wie es ist, und dem, was geschrieben steht. Und der Sinn dieses Sprichworts reicht noch tiefer: Papier kann sich nicht wehren gegen das, was man ihm aufdruckt und aufbürdet.

Die „heiligen Bücher“ der Juden, Christen, Muslime und vieles andere, was „geschrieben steht“, sind zu Mächten geworden, die alles bestimmen. Sie bescherten der Welt das Schwarz und Weiß der Zählung, der Geltung, der Erinnerungen, aber auch nie gekannte Farben der Sehnsucht und der Poesie – und auch tiefere Ohnmacht.

Papier lässt sich kunstvoll und sensibel beschreiben, aber auch beflecken und missbrauchen – zum Beispiel um Machtwahn und Gewalt zu rechtfertigen. Nicht Bücher töten, sondern Menschen. Wer anderen „die Schrift“, so nennen wir Christen die Bibel, um die Ohren haut, hat sie zuvor immer schon zugeklappt. Auch so gesehen gilt: Papier ist geduldig.

Gilt das auch für die Leser? Geschwindigkeit und Intensität des Lesens haben sich gewandelt, seit das Internet zum Massenmedium geworden ist. Das Tempo steigt, die Geduld nimmt ab. Die Benutzer­oberflächen werden sensibel, die Benutzer oberflächlicher. Man scrollt durch und klickt weiter. Und selbst die Zeichen werden flüchtig. Das „gedruckte Wort“, einst gesetzt mit bleiernen Lettern und satt geschwärzt mit Farbpigment und Bindemittel, lässt sich mit einem Finger weg­wischen.

So kann Lesen gelingen

Die Geduld nimmt ab – mit dem, „was geschrieben“ steht: Da ist die geschäftige Verachtung der Bücher und der Büchermenschen. Abge­hoben, unnütz und verkopft seien die. Und weltfremd. Als ob nicht auch Bücher eine ganze Welt, und mehr als eine, enthalten, bewahren und ändern könnten. Und als ob die Welt nicht selbst längst vertextet wäre, vom BGB bis zum genetischen Code, vom Schuldschein bis zur Software, die die Handys ausforscht.

Da ist die scheinbar fromme Ungeduld der Fundamentalisten, die die ganze Welt so schwarz-weiß haben wollen, wie sie die Schriften lesen. Oft reichen ihnen ein paar Zeilen, ein aus dem Zusammenhang gerissener Vers, um mit Gewalt das umzusetzen, was angeblich nun einmal da steht. Als ob ein paar Zeilen weiter nicht auch etwas ganz anderes stünde. Und als ob zwischen dem Schwarz der Buchstaben nicht auch das Weiß wäre, ein Gedankenraum, den sie geduldig aus­halten und ausfüllen müssen. So kann Lesen gelingen: mit Raum für Notizen, Fragen, Wider­sprüche, mit Gelegenheit zur Interpretation.

###autor### Und dann ist da das rasche Urteil ­rascher Kritiker. Auch sie sind schnell fertig mit dem, was Generationen vor ihnen Halt und Richtung gab. Ihnen genügt manchmal ein einziger Satz, der zu beweisen scheint, was sie längst wussten und auch gar nicht genauer wissen wollen: „Das ist frauenfeindlich, autoritär. Das verherrlicht Gewalt!“

Wer Glück und Leben sucht, soll Tag und Nacht über Gottes Weisung murmeln, heißt es in Psalm 1. Das klingt mühsam, aber auch verheißungsvoll.
Vor der Lebenstiefe der Schrift sind wir Menschen allemal „Bettler, das ist wahr!“, schreibt Martin Luther kurz vor seinem Tod. Doch er kann auch erzählen, wie ihm durch Gottes Gnade nach Jahrzehnten des Lesens und Lernens ein Vers neu aufging. Und mit diesem Vers die „Pforte zum Paradies“. Papier ist geduldig.
Und geduldigen Lesern kann viel passieren.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Ich weiß gar nicht, ob sie´s wussten, aber nicht nur Totholz-Medien lassen sich kunstvoll und sensibel beschreiben. Digitals pauschal mangelnde Sensibilität zu unterstellen, könnte glatt schon als diskriminierendes Sprachhandeln durchgehen. Aber nicht nur Papier ist geduldig, auch dieses Internet. ;))
Theologisch dachte ich, dass für uns Evangelische seit der Barmer Erklärung das "Eine Wort Gottes" kein gedrucktes mehr ist. Aber der Weg ins Archiv scheint auch ein Bielefeld ein weiter zu sein.
Aktuell beobachten wir grade, wie das sterbende liberale Paradigma und der Kulturprotestantismus uns den Rst "Lebenstiefe der Schrift" nehmen. Adolf von Harnack is back, Slenzka war nur naiv genug die aktuelle Bedeutungslosigkeit der "Heiligen Schrift" in Theologie und Kirchenleitung mal locker zum Small-Talk zu machen. In diesem schick designten Alpapiertonnen-Content "Bild und Bibel" kommt er ja reichlich zu Wort.
Lesen ist nicht an ein Medium gebunden. Reformation aus dem Geist Gottes auch nicht.

Permalink

Eine Antwort an Frau Kurschus:

Ihr Text zeugt von gebildeter Formulierungskunst. Aber Inhalte, auf die man sich berufen kann, sehen anders aus.

Sie formulieren: "Und als ob zwischen dem Schwarz der Buchstaben nicht auch das Weiß wäre, ein Gedankenraum, den sie geduldig aus­halten und ausfüllen müssen".

Zwar ist immer noch Einigen klar, was Sie damit sagen wollen, aber sagen Sie den Satz doch mal einem jungen Menschen, den Sie überzeugen wollen! Sie haben keine Chance, von Ausnahmen einmal abgesehen. Sie wollen vermutlich wohl auch nicht vorrangig die ansprechen, die in christlichen "Kreisen" ihr volles Verständnis geschult haben und vorgeben, alles zu verstehen, sondern es sind doch wohl die Anderen, die sie überzeugen wollen. Die verblümte Sprache der Kirche ähnelt in ihrem "Reichtum" doch sehr der Sprache der Politiker, die alles sagen sollen, müssen um dennoch nicht zu viel zu sagen. Weil das, was sie sagen, doch sofort die Gefahr des Missverständnisses birgt, wird selten jemand konkret. Es ist die viel- und dennoch nichtssagende Beliebigkeit, die speziell in der evangelischen Kirche Einzug gehalten hat.
Nicht "Die Geduld nimmt ab mit dem, „was geschrieben“ steht“, es sind die konkreten Fragen, für die keine Antworten gegeben werden. Einen Text mit dem Hinweis auf ein Gleichnis (Vergleiche sind immer ein Notbehelf) zu beantworten um dann folgende Fragen mit einer weiteren Fülle von Gleichnissen (Ein Gleichnis für das Gleichnis des Gleichnisses) zu beantworten, zeigt die Hilflosigkeit. Dafür besteht keine Geduld mehr. Und wenn dann noch jeder Pfarrer, jeder theologische Wissenschaftler sein eigener Interpret ist, wird das Glaubens- und Auslegungschaos subkutan. Sätze und Inhalte können auch wie Aale sein. Sie winden sich, sie sind nicht greifbar, sie verschwinden glatt wie sie gekommen sind, sie brauchen die Ungreifbarkeit zum Überleben. Ist die Reformation in diesen individuell beliebigen Zustand „gerutscht“?