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Die Wiedereinweihung der Dresdner Frauenkirche, der Weltjugendtag in Köln, Evangelischer Kirchentag, Katholikentag. Kirchliche Großereignisse mit enormen Besucherzahlen und umfangreicher Berichterstattung in den Medien: Erleben wir eine Wiederkehr der Religion? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Mal gelten die Deutschen als "ziemlich gottloses Volk" ("Die Zeit"), mal signalisieren Umfragen "bereits einen sprunghaften Anstieg des religiösen Bewusstseins gerade bei Jüngeren" ("Cicero"). Ist das Bild vom Niedergang des christlichen Glaubens in unserem Land eine Überoder gar Fehlzeichnung oder reden Kirchenführer die Lage schön?
Drei Erfahrungen kommen mir dazu in den Sinn:
Ein Taufgottesdienst: Das Neugeborene soll getauft werden. Immerhin. Doch der Familie des Täuflings ist das Kirchliche sichtlich fremd. Schweigend wohnt sie den Liedern und Gebeten bei. Das Vaterunser ist auf dem Liedblatt abgedruckt. Nichts kann als bekannt vorausgesetzt werden.
Auch die Unkenntnis über die Bedeutung christlicher Feiertage ist weit verbreitet. Der "religiöse Analphabetismus" in unserem Land ist beträchtlich vielerorts verfestigt in der zweiten Generation. Traditionsabbruch nennen das die Experten.
Eine Geburtstagsfeier: Ein erfolgreicher Unternehmer feiert seinen Fünfzigsten. Die Schwester spricht über das erfolgreiche unternehmerische Wirken ihres Bruders, aber auch darüber, dass "das Wichtigste in unserem Leben das von unser Mutter übernommene Gottvertrauen ist". Ein persönliches Bekenntnis, schnörkellos und direkt und niemandem in der Runde peinlich. Immer häufiger mache ich auch solche Erfahrungen. Menschen sprechen offen über ihren Glauben, weil ihre Kinder sie mit Glaubensfragen konfrontieren, weil der Moscheebau im Nachbarort Fragen nach der eigenen religiösen Prägung auslöst oder weil ein Auslandsaufenthalt die weltweite Bedeutungs-zunahme der Religion bewusst gemacht hat.
Der bunte Jahrmarkt für Sinnsucher: Fester Bestandteil vieler Feuilletons sind Berichte über die nationalen oder internationalen Foren spiritueller Sinnsucher geworden. Hier werden Versatzstücke fernöstlicher Religionen angeboten, vor allem spirituelle Erfahrungen durch diverse Meditationstechniken. Nicht autoritär geführte Sekten mit geschlossenen Denkgebäuden, sondern offene Angebote zur Entwicklung der eigenen "Patchwork"-Religion sind für viele die Alternative zu kirchlich geprägter Frömmigkeit.
Religiöser Analphabetismus, persönliche Bekenntnisbereitschaft, wachsende "Patchwork"-Religiosität
Religiöser Analphabetismus, persönliche Bekenntnisbereitschaft, wachsende "Patchwork"-Religiosität: Was folgt daraus für die Kirchen? Zunächst einmal: Wir brauchen eine Bildungsoffensive, in deren Mitte der wichtigste Schatz unserer Tradition gehört, die biblischen Geschichten von der bedingungslosen Liebe Gottes zu den Menschen. Wir müssen Menschen dazu ermutigen und befähigen, über ihre Glaubenserfahrungen zu sprechen. Wir müssen wieder deut-licher machen, dass es zusammengehört: Gott immer besser mit dem Verstand begreifen zu wollen und uns von Gottes Liebe ergreifen zu lassen. Theologische Reflexion und das Miteinander in der Gemeinde bewahren uns dabei vor der Gefahr, unsere subjektiven Erfahrungen überzubetonen. Hermann Gröhe