Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
20.10.2010
Sexagesimae
Suchet den Herrn, solange er zu finden ist; rufet ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Weg und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum Herrn, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserem Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.
Jesaja 55,6-7

Eine der großen Fähigkeiten des Menschen ist es, mit sich selber zu brechen, die eigene Schuld zuzugeben und neue Wege zu gehen. Es ist nicht leicht, denn wir stehen unter dem merkwürdigen Zwang, Gesicht zu wahren; ein Zwang zur Perfektion, der es schwer macht, sich als Irrigen, als Fragment und als Schuldigen zu zeigen. Man muss unter diesem Zwang fast wie Gott sein: fehlerlos, allwissend, sich selber durchhaltend, der Bekehrung nicht bedürftig. Die Fähigkeit, sich zu verändern, ist eine Frage des eigenen Lebensreichtums. Bin ich auf mich selber gebannt, oder bin ich fähig zu lernen? Je unbescheidener ein Mensch ist, je größer seine Wünsche an das Leben sind, umso weniger wird er sich mit sich selber abfinden. Er wird sein Recht einklagen, ein Anderer zu werden.
Bekehrung heißt nicht nur, die Wege aufzugeben, die man bisher gegangen ist; vorher heißt es, sich im eigenen Denken zu unterbrechen, von seinen Gedanken zu lassen, zu anderen Gedanken zu kommen. Es gibt eingeschliffene Selbstverständlichkeiten des Denkens, der Weltansicht und der Wahrnehmung der Welt, in denen das Unrecht als Unrecht nicht mehr erkennbar ist. Die Gewöhnung an das Unrecht aber raubt Wissen und Gewissen. Zwei Arten von Schuld kann man unterscheiden. Die eine: gegen sein Gewissen zu handeln; die andere: kein Gewissen mehr zu haben. Im normalen Sprachgebrauch meinen wir die erste, wenn wir von Schuld reden. Wir setzen ein freies Subjekt voraus, das fähig ist, Recht und Unrecht zu erkennen und nach dieser Erkenntnis oder gegen sie zu handeln. Diese Souveränität des Gewissens und des Handelns haben wir vorausgesetzt, wenn wir unsere Väter und Mütter nach der Nazizeit gefragt haben: Wo wart ihr? Warum habt ihr geschwiegen? Warum habt ihr nicht widerstanden? "Wir haben es nicht gewusst", haben die meisten geantwortet. In einem gewissen Sinn hatten sie Recht. Da aber setzt die Frage nach der anderen Schuld ein? Warum habt ihr nichts gewusst? Wie seid ihr in die Blindheit und in die Verstockung geraten?
Heute durchschauen wir die Verblendung jener Zeit leicht. Väter und Mütter zu entlarven ist keine große Kunst. Schwerer dagegen ist es zu erkennen, wo wir unser eigenes Gewissen in Selbstverständlichkeiten erstickt haben. Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass auch unsere Kinder einmal unsere Richter sein werden und uns fragen: Wo wart ihr? Warum habt ihr geschwiegen? Warum seid ihr mitgelaufen? Darum: "Suchet den Herrn, solange er zu finden ist!"