„Du bist heute dran mit Beten“, sagte meine Mutter und erinnerte an einen goldenen Kompromiss: An geraden Tagen musste ich den Abfall heruntertragen, durfte aber auch die Reste in den Schüsseln auslecken, wenn ich dazu Lust hatte. An ungeraden Tagen hatte mein jüngerer Bruder „Dienst“, wie wir das nannten. Dazu gehörte es, das Tischgebet zu sprechen. „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“
Wenn ich mich richtig erinnere, gehörte Beten für mich vor dem Abitur auf die positive Seite der Liste, die der Diensthabende abzuarbeiten hatte – aber vielleicht hatte das Gefühl auch ganz schlichte Gründe: Es war nicht leicht, in dem Haushalt von vier Akademikern, in dem ich aufgewachsen bin, mal für wenige Sekunden ununterbrochen sprechen zu dürfen.
Als ich Theologie zu studieren begann, fand ich, es sei mehr Abwechslung beim Tischgebet angezeigt. Eine Weile lagen entsprechende Bücher zur Auswahl bereit. Natürlich wurde damals auch kräftig darüber diskutiert, ob es überhaupt sinnvoll sei, für alle am Tisch ein einziges Gebet zu sprechen. Eines hat sich gegenüber diesen Tagen bis heute nicht verändert: Ich danke gern, sei es laut oder leise, vor dem Essen dafür, dass etwas auf dem Tisch steht.
„Auf Reisen passe ich mich an und esse, was auf den Tisch kommt.“
Im Bibeltext, über den in den meisten Gemeinden dieses Jahr zum Erntedankfest gepredigt wird, heißt es, dass nichts verwerflich ist, was mit Danksagung, also mit Gebet empfangen wird. Damit formulierte der Autor des neutestamentlichen Briefes, in dem diese Passage enthalten ist, einen ziemlich radikalen Satz: Alles, was man irgendwie essen kann, kann man auch jederzeit essen.
Mit ein paar Federstrichen setzte sich da ein Christenmensch der ersten Generation über die Speisegesetze der hebräischen Bibel und ihre Spezifizierungen im jüdischen Religionsrecht hinweg. Darin sind ihm durchaus nicht alle gefolgt. „Könnte ich bitte etwas Milch für meinen Kaffee haben?“, fragte ich jüngst etwas gedankenverloren in Jerusalem. „Wir sind ein koscheres Lokal“, antwortete freundlich, aber bestimmt der Kellner. Meint: Wir halten uns noch an die ererbten Speisegebote. Katholische Christenmenschen sind gehalten, eine Stunde vor der Eucharistie nüchtern zu bleiben, und sollten nicht (wie ich selbst) noch rasch vor dem Gottesdienst ihr Brötchen herunterschlingen und ihren Kaffee stürzen.
Aber so weit sind die Konfessionen und Religionen dann doch nicht voneinander entfernt. Ein jüdischer Kollege aus den Vereinigten Staaten, der ziemlich fromm ist, wollte mich vor einiger Zeit besuchen. Hektisch überlegte ich, im Sinne der koscheren Küche getrenntes Geschirr für Milchiges und Fleischiges vorzubereiten. Lachend beruhigte mich mein Kollege: „Auf Reisen passe ich mich an und esse, was auf den Tisch kommt.“ Mit Danksagung. Weil nichts, was mit Danksagung empfangen wird, verwerflich ist.
Tafel Schokolade gegen Kummer im Nu aufgefuttert
Es gibt tausenderlei Gründe, nicht überall alles gleich herunterzustürzen und -zuschlingen, was bereitsteht. Es gibt gute Gründe, in der Fastenzeit über Fasten nachzudenken. Ohnehin sollte man sorgfältig auswählen, was man isst und trinkt. Schon wegen der eigenen Gesundheit folgen immer mehr Menschen diesem Rat. Zum bewussten Essen gehört, dafür zu danken, dass wir – im Unterschied zu vielen anderen Menschen dieser Erde – etwas auf dem Teller und im Glas haben.
Der lebenskluge Satz für das Erntedankfest besagt, dass solches mit Dank empfangene Essen nicht verwerflich ist. Lebensklug ist er, weil er zugleich alle tröstet, die daran scheitern, bewusst zu essen. Die abnehmen wollten und doch die Tafel Schokolade gegen Kummer im Nu aufgefuttert haben. Das ist zwar unangenehm, aber nicht verwerflich. Gott sei Dank.