- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
. . . Und Gott der Herr pflanzet einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, . . .
In der Nähe der hessischen Stadt Marburg liegt auf einem Berg das kleine Dorf Caldern. In seiner Mitte steht ein spätromanisches Kirchlein, die einstige Klosterkirche eines in der Reformation aufgelösten Zisterzienserinnen-Konvents. Sie ist von einer großen Wiese umgeben, an deren einem Ende man einen prächtigen Blick von der Höhe auf das breite Tal der Lahn hat. Neben der Kirche steht ein großes, weiß gestrichenes Pfarrhaus mit großem roten Ziegeldach. Die Wiese, auf der einstmals das Kloster lag, heißt das „Paradies“.
Kennengelernt habe ich das Paradies erstmals vor fast 35 Jahren. Meine Eltern, mein Bruder und ich waren auf einer anstrengenden Rückreise vom Urlaub in Südtirol. Die schweren Staustrecken um München und Würzburg herum waren mit Mühe bewältigt, die Luft im Auto war zum Schneiden, mein Vater vom langen Fahren angespannt und die Stimmung schlecht. Da fuhren wir aus dem Wäldchen, das Marburg und Caldern trennt, auf den Hügel zu, vor das Pfarrhaus – und saßen wenige Minuten später im Paradies, auf einer weiß gestrichenen Gartenbank. Es gab Kaffee, Tee und Kuchen und gute Gespräche. Mein Vater zog an seiner Pfeife; er wirkte jung und fröhlich wie lange nicht mehr.
Irgendwann mussten wir Caldern und sein Paradies wieder verlassen und den Heimweg nach Berlin antreten, wieder Staustrecken, wieder lustlose Fahrt über lange Autobahnen.
Später habe ich in Marburg studiert und bin sonntags immer mit dem Rad nach Caldern gefahren, genoss Kaffee und Kuchen, manchmal auch ein Gemeindefest mit Renaissance-Tänzen. Es war immer eine Unterbrechung des Alltags. Seither sehe ich vor meinem inneren Auge, wenn ich vom Garten Eden in der Bibel lese, diese hessische Abschattung des Paradieses. Wenn ich von den „allerlei Bäumen, verlockend anzusehen und gut zu essen“ lese, denke ich an die alten Bäume in Caldern, bei den vier Strömen sehe ich die Lahn vor mir, unterhalb von Caldern. Und das alte, längst verstorbene Pfarrersehepaar, das den Garten hütete, erschien mir wie zwei Menschen, die sich den Auftrag Gottes zur Lebensaufgabe gemacht hatten, den Garten Eden zu bebauen und zu bewahren.
Natürlich weiß ich, dass nach dem Zeugnis der Bibel die Menschen aus dem Paradies vertrieben worden sind und es, wenn überhaupt, erst nach diesem Leben wieder in Besitz nehmen werden. Natürlich weiß ich auch, dass der biblische Text nicht auf einen Ort Bezug nehmen will, der auf der Landkarte zu finden ist, wie Caldern in Hessen.
Das Paradies, ein paar Kilometer von Marburg entfernt
Aber warum soll man nicht, wenn es um die Welt geht, wie Gott sie ursprünglich gemeint hat, an irdische Orte denken? Ich meine solche irdischen Orte, an denen man wenigstens noch zeichenhaft, im Kleinen etwas davon erkennen kann, wie Gott sich diese Welt ursprünglich einmal gedacht hat. Orte, die uns besonders friedlich, harmonisch erscheinen. Orte, an denen wir die Paradiesgeschichte nicht nur für eine abgetane Mythologie aus grauer Vorzeit halten. Orte, an denen Menschen so leben, wie es den Maßstäben biblischer Texte entspricht, wo sie einladend Gemeinde gestalten, gastfreundlich gegenüber Fremden sind.
Ich war schon lange nicht mehr im Paradies. Vor einiger Zeit habe ich aber schon einmal darüber geschrieben und bekam prompt eine freundliche Einladung zu einem Vortrag in der Reihe „Theologie im Paradies“ im Sommer nächsten Jahres. Man ist dort offenbar immer noch ungemein gastfreundlich und vielleicht gibt es sogar noch die weißgestrichene Gartenbank. Wie auch immer: Es gibt das Paradies. Und seinen Vorschein. Einen Vorschein mitten in Deutschland. Ein paar Kilometer von Marburg entfernt.