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Als ich vor vielen Jahren in Jerusalem studierte, war ich zu einer jüdischen Passafeier eingeladen. Vorher hatte ich mir eine Haggada gekauft: den Text, nach dem der jüdische Hausvater Lesungen, Gebete und biblische Texte vorträgt. Ich wusste: Die biblische Mahlzeit, wie sie der hebräische Text erzählt, kann man heute so nur noch bei den Samaritanern erleben, einer kleinen Religionsgemeinschaft aus biblischer Zeit, die bis heute in Israel und im Westjordanland existiert. Bei allen anderen Juden steht am Ende dieses Essens der hoffnungsfrohe Ausblick: „Nächstes Jahr in Jerusalem.“ In die Liturgie des Festes ist er vermutlich zu den Zeiten gekommen, als das jüdische Volk im Exil lebte und keine Hoffnung bestand, den Sehnsuchtsort mit eigenen Augen sehen zu können.
In meiner damaligen Naivität glaubte ich, der Satz „Nächstes Jahr in Jerusalem“ werde nun in Jerusalem selbst zwar ein historisch wichtiger, aber faktisch wenig bedeutungsvoller Satz sein. Denn für einen Jerusalemer Familien- und Freundeskreis müsste es selbstverständlich sein, auch im nächsten Jahr vor Ort zu feiern.
Archaische Texte in die Gegenwart holen?
Es kam ganz anders. Man hatte amerikanische Verwandte eingeladen. Nach dem Satz „Nächstes Jahr in Jerusalem“ ging man nicht auseinander. Vielmehr brach eine heftige Debatte aus, ob man als Jüdin und Jude nur in Israel leben oder auch andernorts die Religion ungestört ausüben könne. Als Deutscher hörte ich diese Debatte mit spitzen Ohren, erinnerte mich an die Panzerwagen vor den Berliner Synagogen. So wurde der alte, scheinbar etwas abständige Satz plötzlich ganz gegenwärtig.
Der Text der hebräischen Bibel über das Passafest wirkt ebenfalls historisch sehr bedeutsam, aber eben auch sehr fremd. Wer schlachtet schon noch selbst zu Hause und bestreicht mit dem Blut des geschlachteten Tieres den Türrahmen, um das Haus vor einem bösen Geist zu schützen? Unsere Versuche, den als archaisch empfundenen Text in die Gegenwart zu holen, wirken oft etwas hilflos. Die Erfahrungen vor Jahren bei der Passafeier in Jerusalem haben mich nachdenklich gemacht.
Ich will mich nicht mit der Gewohnheit abfinden, allzu schnell einen biblischen Text für fremd und abständig zu erklären.Tatsächlich bietet die alte Erzählung über das Passamahl viele Anknüpfungsmöglichkeiten, wenn wir ihr nur die Chance geben. Ein Beispiel: Paulus und viele andere Christen in der Antike haben Jesus von Nazareth als das Passalamm gedeutet, das zu unserem Schutz und Heil geschlachtet wurde. Die ersten Christen waren ja auch gleichzeitig Juden, sie feierten Jahr um Jahr das Fest, das sie als Juden kannten. Vor dessen Hintergrund deuteten sie das Lebensschicksal ihres Erlösers.
Botschaft, die niemandem mehr wehtut – und niemanden mehr tröstet
Doch heute liegt bei vielen von uns ein niedliches Osterlamm aus Teig auf dem geschmückten Ostertisch. Ist uns eigentlich noch bewusst, dass damals in Jerusalem Blut beim Tode Jesu floss – wie bei der biblischen Passamahlzeit, und dass ein Toter von den Toten auferstand? Ahnen wir noch etwas von der Ungeheuerlichkeit der Osterbotschaft? Oder haben wir sie so domestiziert, dass sie niemandem mehr wehtut – und niemanden mehr tröstet?
Natürlich dürfen wir einen biblischen Text, den wir mit dem Judentum gemeinsam haben, nicht auf eine christliche Deutung engführen, selbst wenn sie aus den Anfängen des Christentums stammt. Sie ist eine Deutung unter mehreren. Aber die alte biblische Erzählung von Passa könnte uns anregen, uns mit den oft verdrängten Seiten der Osterbotschaft etwas vertrauter zu machen: Auch zu Ostern floss wirkliches Blut, und aus dem Tod entstand vielen Menschen Heil. Wirklich fröhlich und getröstet wachen wir Ostern nur auf, wenn wir das nicht – wie Martin Luther gesagt hätte – für ein Märlein aus längst vergangenen Tagen halten.