Predigt von Fulbert Steffensky zum 13. Sonntag nach Trinitatis über 1. Mose 4,13: Kain sprach zum Herrn: Allzu groß für das Vergeben ist meine Schuld.
Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
20.10.2010
13. Sonntag nach Trinitatis
Kain sprach zum Herrn: Allzu groß für das Vergeben ist meine Schuld.
1. Mose 4,13

Fast nebeneinander sind in den ersten Kapiteln der Bibel zwei Anfänge beschrieben: der Anfang der Güte und der Anfang der Zerstörung. Der Anfang der Güte: Gott schafft die Lebensmöglichkeiten für Pflanzen, Tiere und Menschen und dann diese selbst. Die ersten zwei Kapitel sind die Erzählung vom guten Anfang des Lebens. Die Hoffnung singt, gerade wo sie nicht mehr selbstverständlich ist, das Lied: Es war einmal alles gut, ganz und von Gott gesegnet. Die zweite Strophe dieses Liedes heißt: Es wird einmal sein! Die Güte des Anfangs ist das Versprechen des guten Ausgangs allen Lebens.

Und dann, nur zwei Kapitel später, die erste atemraubende Ungeheuerlichkeit: Der Bruder erschlägt den Bruder. Die Erde hat ihr Maul aufgetan und das Blut des Unschuldigen getrunken. Der Acker wird dem Mörder keinen Ertrag mehr geben. Die Erde ist ihm fremd geworden, und er ist unstet und flüchtig. Der Mörder steht entsetzt vor sich selber: "Allzu groß für das Vergeben ist meine Schuld." Er ist ein Mörder, und er hat seine Ehre nicht verloren. Er flieht nicht vor sich selber, er schaut sich ins Gesicht, er hat nichts mehr zu seiner Rechtfertigung vorzubringen. Das Lied aller Feiglinge, das auch er zuerst gesungen hat ­ "Bin ich denn meines Bruders Hüter?" ­ hat er verlernt. Er weiß nur, dass alles verloren ist: "Ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen, unstet und flüchtig muss ich sein auf Erden. Wer mich findet, schlägt mich tot." Der Schläger ist wehrlos geworden. Es kommt, wie er befürchtet hat. Der Acker trägt ihm nichts mehr, und er verliert, worauf er gewohnt hat. Nichts wird ihm erlassen von den Folgen seiner Tat. Kein Gott sagt: Es war nicht so schlimm!

Aber Gott macht an ihm ein Zeichen, niemand soll den Mörder erschlagen. Das Kainszeichen, sagen wir und meinen damit eher ein Schandmal. Aber es ist ein Lebenszeichen. Er darf leben, er soll leben. "Allzu groß für das Vergeben ist meine Schuld", erkennt Kain. Und er empfängt das Zeichen des Lebens. Er wird gezeichnet mit der Erlaubnis zu leben. "Das Vergeben verzeiht nur das Unverzeihbare." Dieser Satz von Jacques Derrida ist so widersprüchlich wie das wundervolle Verhalten Gottes selber: der große Fluch auf den Mörder und das große Zeichen, das ihn schützt und am Leben lässt.

Die Geschichte Kains geht nach der abnormen Tat in einer eigentümlichen Normalität weiter: Er liebt seine Frau, wie auch die Unschuldigen lieben. Sie gebiert einen Sohn. Kain baut eine Stadt. Unter seinen Nachkommen sind die Zither- und Flötenspieler, die Zeltbewohner und Eisenschmiede. Kain wird das Zeichen nicht los. Es lässt ihn leben, und es erinnert ihn an den Mord. Das Opfer bleibt unvergessen. Die Toten haben das Recht, dass ihre Namen und ihr Schicksal genannt werden. Aber sie haben kein Recht, den Lebenden die Sonne zu nehmen. Man ehrt die Toten nicht mit der eisernen Größe jenes Satzes: Zu groß für das Vergeben ist meine Schuld. Zur Erinnerung gehört das Vergessen.

Unvergessen soll das Leiden der Opfer sein. Aber sich selbst als Schuldigen muss man auch vergessen können. Das narzisstische Kleben an der eigenen Vergangenheit ist der Verrat des Lebenszeichens. Die Größe der Schuld ist nicht die einzige Wahrheit. Das Zeichen des Freispruchs ist die andere Wahrheit. Kain hat wieder gelernt, zu essen und zu trinken, zu lieben und Kinder zu zeugen. Und sogar die Zitherspieler stammen aus seinem Geschlecht.