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Matthäus 7,13-16
Während meines Theologiestudiums sah ich erstmals ein Plakat aus dem neunzehnten Jahrhundert, das man seit geraumer Zeit wieder kaufen kann: Es ist „Der breite und der schmale Weg“ betitelt und bereits unten am Bildende zeigt ein Wegweiser, wohin beide Wege führen: „Tod und Verdammnis“ zur Linken, zur Rechten „Leben und Seligkeit“.
Entsprechend drastisch geht es auf den beiden Strecken weiter, links elegant gewandete Herren am Tisch, trinkend, lustiges Treiben beim Maskenball, Theater, Tierquälerei und Krieg – ganz oben über einer fahrenden Eisenbahn eine brennende Stadt mit den Dämonen der Hölle darüber. Rechts am schmalen Weg, der durch eine enge Pforte führt, stehen nur die Sonntagsschule und eine neogotische Kirche, dazu ein Kreuz mit einer Quelle, an der man sich laben kann.
Kurz vor der Paradieses-Stadt im Himmel liegt ein Diakonissenhaus mit angeschlossener Kinderrettungsanstalt, nicht sehr verwunderlich, da die Anregung zum Bild von Charlotte Reihlen (1805−1868) stammt, der Gründerin der Evangelischen Diakonissenanstalt Stuttgart.
Da ich in einem liberalen evangelischen Umfeld in Berlin aufgewachsen bin, hat sich mir nie die Frage gestellt, ob einen die Teilnahme an einem Faschingsfest vom Weg des Glaubens abführen kann oder Tanzen Christenmenschen vielleicht doch nicht erlaubt ist. Im Gegenteil: Die beiden Pfarrer, die meine Jugend geprägt haben, waren exquisite Tänzer, und die Feste (auch im Karneval) der Gemeinde waren äußerst beliebt. Leicht verwundert nahm ich im Studium – bei einem Gespräch vor dem erwähnten Bild – zur Kenntnis, dass in den pietistischen Kreisen, denen sich Charlotte Reihlen zuwendete, tatsächlich darüber diskutiert wird, ob Christenmenschen tanzen dürfen und sich Menschen dabei so nahe kommen, dass sie die rechte christliche Orientierung verlieren.
Auch wenn das Bild vom breiten und schmalen Weg heute eher dazu dient, um sich über die puritanische Strenge im 19. Jahrhundert zu amüsieren, die damals beileibe nicht auf den württembergischen Pietismus beschränkt war, zeigt das Bild Orte, vor denen man – ganz unabhängig davon, woran man glaubt – nur warnen kann: Ich denke an Automatenspielparadiese, ich denke daran, wie viele viel beschäftigte Menschen mit Blick auf ihren Alkoholkonsum ins Schleudern kommen. Von anderen Suchtproblemen einmal ganz zu schweigen.
Es gibt tatsächlich Wege, die vom Leben in den Tod abführen, und damit auch von einem christlichen Leben. Und es gibt falsche Propheten, die auf diese Irrwege weisen. An ihren Früchten erkennt man sie. Ein Beispiel: An den Menschen, die mühsam in Selbsthilfegruppen lernen müssen, mit einer Spiel- oder Trinksucht umzugehen, kann man studieren, wer und was sie verführt hat. Ebenso an Menschen, die ihrer Neigung zur Gewalt nicht mehr Herr werden konnten. Manchmal ist es gar kein falscher Prophet in Person, sondern eine Struktur, eine Gesetzeslücke, die lasche Handhabung des Verbots, Alkohol an Jugendliche zu verkaufen. Ein scheinbar netter Wirt, der mal fünfe gerade sein lässt, wird zum Wolf im Schafspelz, auch wenn er es vielleicht nicht mal selbst weiß.
Charlotte Reihlens Bild ist nicht einfach nur ein Zeichen von angestaubter und hoffentlich vergangener evangelischer Frömmigkeit. Es ist eine Warnung, dass man verführt werden kann – und eine Mahnung, dass die christliche Gemeinde Menschen helfen sollte, den scheinbar bequemen Weg nicht zu gehen und von ihm wieder herunterzukommen. Vielleicht brauchen wir, um das zu illustrieren, inzwischen doch neue Bilder.