Professor Dr. Christoph Markschies
Christoph Markschies ist Professor für Ältere Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin
Thomas Meyer/OSTKREUZ
Seien wir etwas gnädiger
Christoph Johannes MarkschiesThomas Meyer/OSTKREUZ
26.08.2015
14. Sonntag nach Trinitatis
Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und prachen: ­Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! . . . Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme . . . Jesus sprach: . . . Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?
Lukas 17, 12–19

Zehn Menschen haben Grund zu danken – und nur ein einziger dankt. Eigentlich wollte ich darüber schreiben, dass genau das auch meine Lebenserfahrung ist. Man hat sich weit über das hinaus engagiert, was zu erwarten ist – und wartet vergeblich auf Dank. So etwa wollte ich schreiben. Aber bevor ich notieren konnte, was ich mir zurechtgelegt hatte, fand ich beim Aufräumen einen Stapel von Briefen, die meine Mutter im Laufe von fast zwanzig Jahren an zwei alte Tanten in Leipzig geschrieben hatte. Darin erzählte sie nicht nur begeistert von ihren ersten Ehejahren und der Geburt der Kinder –, sondern entschuldigte sich auch wortreich dafür, dass ihr Sohn Christoph sich zwar sehr über das Geschenk zu Weihnachten gefreut habe, aber immer dazu ermahnt werden müsse, ein paar Zeilen des Dankes zu schreiben. Dem Brief lag nichts von mir bei, so dass ich vermuten muss, dass alle Mahnungen meiner Mutter erfolglos geblieben waren und sie daher die Zeilen mit der Bitte um Entschuldigung formuliert hatte.

Was lehren mich diese unvermutet aufgetauchten Zeugnisse aus Kindertagen? Zwei Dinge: Ich bin einerseits nicht nur ein bedauernswertes Opfer von Menschen, die es nicht schaffen, Dankbarkeit zu zeigen. Ich bin andererseits auch Teil dieser Menschen – denn es spricht ja wenig dafür, dass ich jene Eigenschaft irgendwann abgelegt habe.

Eigentlich macht es Spaß, Dank­barkeit zu zeigen

Zweitens macht meine erneuerte Er­innerung an die Kindertage deutlich, dass man durchaus im Stillen dankbar sein kann, es aber aus den verschiedensten Gründen nicht schafft, diese Dankbarkeit anderen Menschen zu zeigen: Natürlich habe ich mich über die Geschenke der Tanten gefreut, war ihnen dafür dankbar – aber kannte diese beiden älteren, etwas strengen Damen so wenig, dass ich kaum wusste, wie ich ihnen nun etwas schreiben könne.

Und so macht die Erinnerung ebenso wie die Frage Jesu im Lukasevangelium deutlich, dass es neben denen, die ihre Dankbarkeit zeigen können, auch solche Menschen gibt, die ihre Dankbarkeit aus welchen Gründen auch immer nicht auszudrücken vermögen. Vielleicht waren auch unter den neun Geheilten solche Menschen. Die scheinbar große Menge undankbarer Menschen sollten wir also vielleicht etwas gnädiger ansehen und überlegen, wie wir ihnen dazu helfen können, ihre Dankbarkeit auch zu zeigen. Denn eigentlich macht es Spaß, Dank­barkeit zu zeigen. Schon, weil die, denen wir sie zeigen, darüber meistens sehr glücklich sind.

Kann man lernen, selbst mehr Dankbarkeit zu empfinden und sie auch zu zeigen? Bei dieser Frage denke ich immer an einen Text, der in meinem Grund­schul-Lesebuch stand. In dieser Geschichte wurde erzählt, dass ein Kind in einem kleinen Laden einkaufte. Nachdem die Verkäuferin alles auf der Theke gestapelt hatte, fragte sie das Kind, das alles stumm in eine Tasche packte, streng: „Du hast wohl das kleine Wörtchen ‚Danke‘  vergessen?“ Auf solche Weise kann man wahrscheinlich nur schlecht lernen, Dankbarkeit zu empfinden und zu zeigen.

Lange Liste von Dankbarkeiten

Wie anders? Im Tagebuch von Max Frisch aus den Jahren 1966 bis 1971 findet sich eine lange Liste von Dankbarkeiten, die er nach einer verstörenden Begegnung notiert hat. Wenn ich diese Idee kopiere, komme ich sofort in eine Stimmung, in der ich Dankbarkeit fühle und überlege, wie ich sie ausdrücken kann. Frischs Liste enthält auch solche Gründe für Dankbarkeit, die in meinen eigenen Listen regelmäßig ganz oben stehen: Gesundheit zum Beispiel.

Wenn ich solche Listen in Gedanken ­zusammenstelle, fällt mir nicht nur auf, wie viel Grund für Dankbarkeit ich habe, sondern auch, wem ich einmal wieder Danke sagen sollte.

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