Zu den provozierendsten Maximen des Menschensohnes Jesus gehört die zum Thema Gewalt, überliefert vom Evangelisten Matthäus: "Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!" (Matthäus 5,39).
Wer je eine Gewalterfahrung gemacht hat, kann diesen Ratschlag nur empörend finden, denn warum sollte man sich gegen seine Peiniger nicht nur nicht wehren, sondern sie ausdrücklich zu weiteren Peinigungen einladen?
Michael Kumpfmüller
Die neue Einheitsübersetzung verwendet den sehr heutigen Begriff Widerstand, der die Dinge leider verdunkelt; mit Martin Luther kommt man der Sache eher auf die Spur. Denn er übersetzt dieselbe Stelle so: "Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar."
Das Entscheidende ist hier natürlich nicht die Backe, sondern der Begriff widerstreben, in dem ja das Wort streben steckt, und dieses Streben ist der Kern des Problems. Wer, sagen wir, nach materiellem oder immateriellem Reichtum strebt, wird sich nur an Orte begeben, wo dieser Reichtum mutmaßlich zu haben ist, er ist nicht frei zu gehen, wohin es ihm beliebt, sondern in seiner Fixierung auf Geld oder Ruhm ein Sklave seines Wünschens, kurz: Er sitzt in der Beziehungsfalle.
Widerstreben ist Streben mit anderen Mitteln
In einer solchen sitzt auch der Widerstrebende, dessen Widerstreben keineswegs das Gegenteil von Streben ist, sondern eine andere, negative Form davon, also wieder: eine Beziehung. Nicht widerstreben bedeutet mithin, keine wie auch immer geartete Beziehung mit dem Bösen einzugehen, innerlich und äußerlich frei zu bleiben, wozu so ähnlich schon das Alte Testament rät: "Sei nicht neidisch auf böse Menschen und wünsche nicht, bei ihnen zu sein; denn ihr Herz trachtet nach Gewalt, und ihre Lippen raten zum Unglück" (Sprüche 24,1-2).
Nun lässt sich aber bekanntlich die Begegnung mit dem Bösen nicht zuverlässig vermeiden; dazu müsste man letztlich alle Sozialkontakte einstellen. Wie also handeln, wenn das Böse einem begegnet? Was soll man mit Jesus tun oder besser lassen, und für welche Fälle ist seine Maxime aktiver Passivität plus Einladung zur Wiederholung tauglich? Oder neudeutsch: Was bekomme ich, wenn ich mich auf das Wagnis des Duldens, wie es bei Homer genannt wird, einlasse? Oder wird mir am Ende nur genommen?
Bei Homer ist die Tugend der Duldsamkeit eine Frage des Timings beziehungsweise der Güterabwägung. In seinem wunderbaren Vortrag "Odysseus, der Sophist" von 2009 beschreibt Peter Sloterdijk die einschlägige Szene: Der als Bettler verkleidete Odysseus kehrt nach Ithaka zurück, einer der Freier seiner geliebten Penelope droht ihm und misshandelt ihn, aber Odysseus "blieb bei Besinnung und wagte zu dulden". Denn nichts ist ihm wichtiger, als nach jahrzehntelangen Irrfahrten das Glück der Heimkehr zu erfahren, und da sind die Aggressionen eines dahergelaufenen Freiers der Rede nicht wert.
Einfach Nein sagen
Erst bei Jesus wird das Gebot der Nichtantwort absolut. Es gilt unter allen Umständen, auch weil die scheinbaren Verluste in Wahrheit Gewinne sind, die materiellen eingeschlossen: Was immer uns materiell genommen wird, ist in der Perspektive von Jesus kein Verlust, sondern, im Gegenteil, ein Freiheitsgewinn, weshalb es bei Matthäus weiter heißt: "Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel."
Es steckt eine Portion Ironie in dieser Volte, auch ein Moment der Beschämung des Gegners, dessen negative Energie hoffentlich ins Leere laufen wird, wenn man ihr nur nachgibt, aber vor allem das unerschütterliche Bewusstsein, dass wir unsere Freiheit und Würde nur bewahren können, wenn wir uns weigern, so zu sprechen und zu handeln wie ein übelwollendes Gegenüber. Im Privaten wie in der Politik.
Ich muss sagen, dass mir das gefällt: Man muss nicht jede Beziehung führen, die einem angetragen wird, man kann auch Nein sagen, so mit einem Lächeln, das dem Gegenüber klarmacht: Wir beide passen nicht zueinander, und das wird für alle Zeiten so bleiben.
"Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!"
Das Entscheidende ist die Backe
In seinem einfachen Beispiel spricht Jesus ausdrücklich von der rechten Backe. Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, sagt Jesus, dann halte ihm auch die andere hin. Dazu ist einiges zu erklären: Jesus lebte in einer reinen „Rechtshänder-Gesellschaft“. Wie noch heute in Teilen des Nahen Ostens und Afrika verwendete man die linke Hand nur für unreine Tätigkeiten. Dagegen war jemanden zu schlagen etwas, was man nur mit der rechten Hand tat. Und um jemanden unmittelbar anzugreifen nahm man die rechte Faust. Wenn aber der Schlag eine Beleidigung war, sozusagen ein Klaps, dann nahm man den Handrücken. Auf diese Art schlugen römische Centurionen ihre Legionäre, Herren ihre Sklaven oder auch Männer ihre Frauen. So etwas war kein körperlicher Angriff, sondern das war die Beleidigung eines Geringeren. In dieser Situation, sagt Jesus, halte ihm auch die andere hin. Nimm die Beleidigung nicht hin, sondern fordere den Angreifer auf, dich als Gleichen zu behandeln. Jesus fordert uns auf, den anderen als Menschen zu sehen und zu behandeln und ihm Gutes zu tun. Mache ihn nicht zum Objekt des Hasses, der zu zerstören oder zu beseitigen ist, sondern behandle ihn als Menschen. Feinde zu lieben bedeutet nicht, über sie glücklich zu sein oder alles zu tun, was sie fordern, aber es bedeutet das zu tun, was am besten für sie ist. Dies wird oft bedeuten, sie herauszufordern, aber es immer von gleich zu gleich zu tun.
(Aus: "The Owl and the Stereo" von David Osborne, herausgegeben von Wild Goose Publications, Iona Community, Glasgow)