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„Unbesonnene Tage“
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
08.05.2020

Der 75. Jahrestag des Kriegsendes wird Corona-bedingt im Stillen begangen. Das hat auch Vorteile. Da kann jeder für sich selbst, zu Hause und mit Hilfe der eigenen Familienerinnerungen darüber nachdenken, was dieser Tag bedeutet. Mir hat dabei ein besonderer Fund geholfen.

Nach der Auflösung des Haushalts meiner Eltern fand ich eine schmucklose, stockfleckige Mappe. Fast hätte ich sie weggeworfen. Doch in ihr entdeckte ich etwas Kostbares. Auf 15 handschriftlichen Seiten hatte mein Vater zu Weihnachten 1947 seine Erlebnisse in Krieg und Gefangenschaft aufgeschrieben. Mit 17 Jahren noch war er im Januar 1945 zur Marine eingezogen worden und dann in englische Gefangenschaft geraten.

Seinem Bericht hat mein Vater den seltsam doppeldeutigen Titel „Unbesonnene Tage“ gegeben. Noch nicht volljährig wird er in den Krieg gerissen. Sein Schiff fährt nach Pommern und lädt Flüchtlinge auf. Deren Elend erschüttert ihn. Er wird noch viele Tote in diesen Wochen sehen. Er überlebt verheerende Angriffe. Mitten im Sturm sieht er seinen gefallenen Bruder vor sich. Sein Gottesbild verwandelt sich von Grund auf. Die unreif-jugendliche Sympathie für Militär und Regime zerbricht. Hohe Offiziere halten markige Reden, um sich wenige Stunden später ihrer Verantwortung durch Suizid zu entziehen. Von seinem Vater, der von den Russen verschleppt wurde, erhält er eine letzte Karte („Halte dich gerade“). Dann bricht die Diktatur zusammen. Es folgen die Gefangenschaft, eine Flucht, wieder Gefangenschaft: nichts zu tun und nichts zu essen. Dann die Entlassung, aber wohin? Er kann an nichts anknüpfen und muss sein Leben ganz neu beginnen.

Die erzwungene Muße dieser Tage habe ich genutzt und diesen Bericht abgetippt. Geburts- und Todestag meines Vaters stehen vor der Tür. Da werde ich den Bericht an die Familie und alte Freunde verschicken.

Und was haben Sie für Kriegserinnerungsstücke bei sich zu Hause?

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Wie sind wir im Kriege und in wenigen Jahren danach aufgewachsen? Vater im Krieg. Jahrelang verschollen. Sehnlichst erwartet, kam er 1947 wieder. Kannten ihn aber nicht. Wir waren bereits von der Mutter erzogen. Dafür brauchten wir ihn nicht mehr. Er wollte aber auch noch was zu sagen haben. Was war mit den Müttern? Mit der damals üblichen feministischen Abhängigkeit und Unterwürfigkeit wurden sie vom System gnadenlos der vollen Verantwortung überlassen. Sie hatten die Sorge um uns Kinder, den Vater, sich selbst und die Zukunft. Jede Nacht hin- und hergeworfen, waren ihre Nächte ein Torso. Sorglos durchschlafen war unbekannt. Das sah man jeden Morgen. Trostlosigkeit war ihr ständiger Begleiter und Lebensfreude ein Fremdwort. Tränensäcke sind untrüglich. Jeden Morgen. Den ganzen Tag. Viele Jahre. Hunger und Mangelernährung waren unsere Begleiter. Wir Kinder waren kindisch und so weit wie möglich unbekümmert. Erst sehr viel später wurde uns das mütterliche Drama bewusst. Wir haben es ihr zu wenig gedankt. Es gab wesentlich schlimmere Schicksale. Das eigene ist für jeden prägend. Und mit unserer Vorprägung war es auch nicht einfach, unseren Kindern mit der Erziehung eine optimale freiheitliche Unbekümmertheit zu vermitteln. Viele werden diesen Hintergrund gar nicht wahr genommen haben. Er war aber da. Seine Wirkung vorhanden. Und dann kommen unablässig die Besserwisser, die Kommentatoren, die nichts wissen, die von den psychologischen Spätfolgen nicht wissen wollen, die uns vorhalten, dass auch wir (Jahrgänge 1930 bis 1945) für all das Erlittene selbst schuld sind. Die, im Vergleich zu Nachbarvölkern, einem großen Teil von uns die angeblich mangelnde Lebensfreude vorwerfen. Die Arroganz der Scheinheiligen, die nicht einmal den Versuch des Verständnisses für die psychologischen Spätfolgen der Überlebenden aufbringen wollen ist unerträglich.

Vielen Dank für diese sehr eindrucksvollen Zeilen! So wie Ihnen geht es sehr vielen Menschen in Deutschland und Europa. Immer noch. Es ist aber gut, dass inzwischen darüber gesprochen werden kann.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur