Selbstbestimmt einkaufen – das hat ja noch gefehlt
Tim Wegner
26.07.2017

Ein Fall für den Menschenrechts-Gerichtshof? Klingt so. „Selbstbestimmter Sonntag“ heißt eine Initiative der Einzelhändler für „freie Entfaltung der Konsumenten“, vulgo: Macht sonntags die Läden auf! Müssen wir uns jetzt mit Transparenten in Straßburg anketten – weil die letzte Kassiererin am Samstag um 22 Uhr das Licht ausknipst und den Scanner runterfährt? Ein Fall für Amnesty, dass wir den Einkaufswagen spätestens um 21.45 Uhr vollschaufeln müssen? Weil sich sonntags auch mal die Verkäuferinnen und ihre Familien frei entfalten wollen?

Vorsicht mit der Vokabel „selbstbestimmt“. Dass Menschen mit Behinderung lange um Selbstbestimmung gekämpft haben, verdient Respekt. Dass Menschen am Lebensanfang oder -ende - bei den ­Themen Abtreibung und Sterbehilfe – auf Selbstbestimmung pochen, ist schon komplizierter. Denn es kollidiert ein freier Wille mit Werten der Gesellschaft. Und die ringt immer wieder um die Balance zwischen dem Recht des Einzelnen und der Rücksicht auf andere. Drum möchte niemand in einem Land von lauter kleinen Bestimmern leben. Selbstbestimmung kann ja nicht heißen, jeder darf tun und lassen, was er oder sie will. 

Auch wenn manche Erziehungsmode so tut. „Selbstbestimmtes Einschlafen“ bei kleinen Kindern wird derzeit heiß diskutiert in Internetforen junger Mütter, nachdem das Thema „Selbstbestimmung bei der Taufe“ gerade durch ist. Dabei bestimmen Eltern so viel für ihre Kinder – ob sie geimpft, gestillt, betreut werden. Woher die Angst vor Entscheidungen? Um 20 Uhr in den Schlaf gesungen, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft werden – auch das scheinen mir keine schlimmen Verstöße gegen das Selbstbestimmungsrecht des Individuums.  

Ein Fall für Menschenrechtler hingegen ist die Reportage auf Seite 38. In Papua-Neu­guinea werden Frauen wie Stella gefoltert, weil sie zu selbstbewusst, ja, selbstbestimmt leben wollen. Ein archaischer Brauch, angeheizt durch moderne Medien. Eine schwer erträgliche Geschichte, ein Skandal. Amnesty, übernehmen bitte! 

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Aber ja doch ! Pflegen wir den Egoismus, diese zutiefst menschliche Eigenschaft.
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Stella wird nicht wegen ihres Selbstbewusstseins gefoltert. Sie wird gefoltert, weil die Menschen dort KEIN SelbstBEWUSSTSEIN haben. Sie handeln, weil sie mit der Entwicklung nicht klar kommen, überfordert, überrollt sind. Die Verantwortung trägt allein der Westen !

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Sehr geehrte Frau Ott,

als konfessionsloser und gelegentlicher Leser von Chrismon, möchte ich Ihnen ein Kompliment zu Ihrem Artikel über das selbst bestimmte Einkaufen und anderer selbstbestimmte Handlungen von Menschen machen.
Es ist das Beste was ich je darüber gelesen habe.

Zwar haben meine Exfrau (protestantisch) uns dafür entschieden, dass unsere Kinder erst mit 12 in freier Entscheidung protestantisch getauft werden, aber ich möchte ihnen nicht widersprechen dies auch direkt nach der Geburt zu tun, wie auch bei mir als ehemaliger Katholik.
Meine ExFrau musste sich bücherlichen Rat einholen, um unsere Kinder zu festen Uhrzeiten einschlafen zu lassen. Selbstbestimmt war da nichts zu machen!

Ihr Fokus auf wirklich akute Mängel in der Selbstbestimmtheit von Menschen in Papua – Neu Guinea im Jahre 2017 hat mir aus dem Herzen gesprochen.

Vielen Dank für Ihren glasklaren Artikel!

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Zunächst ein Kompliment: Ich lese Ihre Kolumne „Erledigt“ immer wieder gerne, pointiert und amüsant weist sie auf Missstände hin, allerdings ohne den sonst in den Medien omnipräsenten erhobenen Zeigefinger!

In der letzten Ausgabe, in der es um Selbstbestimmung geht, ist mir allerdings aufgefallen, dass Sie beim Thema verkaufsoffener Sonntag ausschließlich von „Kassiererinnen“ und „Verkäuferinnen“ sprechen. Ich bin sicher keine fundamentale Feministin, fürchte aber trotzdem, dass mit solchen Formulierungen - wenn auch unterbewusst - Geschlechtervorurteile weiter zementiert werden. Gerade im Magazin der evangelischen Kirche, in der Gleichberechtigung groß geschrieben wird, hätte ich mir eine neutralere Formulierung gewünscht. Vielleicht können Sie nächstes Mal einfach von Kassierern und Verkäuferinnen sprechen - wenn schon beide Begriffe genutzt werden.

Sonst wie gesagt ein Kompliment auch für das ganze Magazin, in dem immer wieder spannende Themen interessant aufbereitet werden - danke!

Antwort auf von Katharina Lange (nicht registriert)

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"Spannende Themen interessant aufbereitet." Das hängt vom Leser und seinem Anspruch ab. Ich betone das vor allem deshalb, weil es der Leserin offensichtlich dazu dient, einen gewissen Level der Unterhaltung aufrecht zu erhalten, also den Smalltalk, frei nach dem Motto: "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass." Dabei wird übersehen, dass eine professionelle "Aufarbeitung interessanter Themen" nicht selbstverständlich mit einer authentischen Einlassung einher geht.
Christlicher Journalismus ist nicht per se perfekt und über jeden Zweifel erhaben.
Mich wundert das große Ansehen, welches die Kommentare des Öfteren zum Ausdruck bringen, das doch aber im krassen Gegensatz zum Mitgliederschwund der Kirche zu stehen scheint.
Aber ich danke meinerseits der Leserin als Leser für ihren überaus zugeneigten Kommentar, denn er zeigt mir, dass gesellschaftliche Konventionen sehr schnell zu starren Regeln werden, und man sich zuweilen wie ein Wurm im Salat vorkommen muss

Antwort auf von Katharina Lange (nicht registriert)

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"Spannende Themen interessant aufbereitet." Das hängt vom Leser und seinem Anspruch ab. Ich betone das vor allem deshalb, weil es der Leserin offensichtlich dazu dient, einen gewissen Level der Unterhaltung aufrecht zu erhalten, also den Smalltalk, frei nach dem Motto: "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass." Dabei wird übersehen, dass eine professionelle "Aufarbeitung interessanter Themen" nicht selbstverständlich mit einer authentischen Einlassung einher geht.
Christlicher Journalismus ist nicht per se perfekt und über jeden Zweifel erhaben.
Mich wundert das große Ansehen, welches die Kommentare des Öfteren zum Ausdruck bringen, das doch aber im krassen Gegensatz zum Mitgliederschwund der Kirche zu stehen scheint.
Aber ich danke meinerseits der Leserin als Leser für ihren überaus zugeneigten Kommentar, denn er zeigt mir, dass gesellschaftliche Konventionen sehr schnell zu starren Regeln werden, und man sich zuweilen wie ein Wurm im Salat vorkommen muss