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Er ist einer der letzten noch Lebenden, die den Pädagogen Janusz Korczak in seinem Waisenhaus kennengelernt haben. Bis heute malt und modelliert der Künstler Itzchak Belfer in Tel Aviv seine Erinnerungen aus Warschau,
bevor die Nazis kamen.
17.06.2013

Kommt die Sprache auf sein Alter, dann reißt Itzchak Belfer die graublauen Augen weit auf und schüttelt den Kopf. „90! Kannst du dir das vorstellen?“, ruft er, halb erstaunt, halb entrüstet, und dann lacht er die Zahl einfach weg – mehr für sich als für das Gegenüber.

Und Rosa, seine Frau, die neben ihm sitzt, lächelt. Belfer springt auf und winkt die Besucherin vom Esstisch im Wohnzimmer, wo es eben noch ein spätes Frühstück mit Wurst und Wodka für den Gast gab, in ein kleines, helles Zimmer gleich nebenan.

Belfer und seine Frau Rosa

Etwa acht Quadratmeter groß ist der Raum, eingerichtet mit braunem Schreibtisch und Büroschränken, dazu eine Staffelei, Farben und Pinsel. Die Geräusche der lebendigen und jungen Stadt Tel Aviv wehen hinein durchs offene Fenster. An den Wänden hängen Bilder bis unter die Decke. Fotos von Belfer als jungem Mann gibt es da, von seinem Sohn und den beiden Enkeltöchtern, Urkunden und Auszeichnungen, einen Kalender. Vor allem aber hängen und stehen hier Belfers Bilder von Janusz Korczak und dessen Waisenhaus. Immer wieder hat er den Pädagogen por­trätiert, gezeichnet, in bunter Öl- und schwarzer Druckfarbe nachgebildet, als kleine Gipsfigur geformt und als schweren Bronzekopf: ein kahlköpfiger Mann mit Bart und Brille inmitten seiner Waisenhauskinder, die ihn lachend umgeben oder sich ängstlich an ihn drücken, während er die Arme wie einen Mantel um sie legt.

Belfer lässt den Raum erst einmal wirken. Dieser zeigt die Geschichte des alten Herrn, ein Leben zwischen Warschau und
Tel Aviv. Man versteht, dass der Künstler Itzchak Belfer immer wieder auf den Jungen zurückkommt, der er einmal im Waisenhaus von Janusz Korczak war. Sieben Jahre war er alt, als seine Mutter ihn 1930 in die Einrichtung des polnisch-jüdischen Arztes und Pädagogen in Warschau brachte. Der Vater war gestorben, die Familie – Mutter, Großvater und sechs Kinder – lebte zu dieser Zeit in einem Raum.

„Ich mochte besonders seinen Bart, er war so schön und blond"

Wenn Belfer von seiner Ankunft in der Krochmalna Straße 92 erzählt, schließt er die Augen, und sein Gesicht wird hell. Vielleicht ist er jetzt wieder Itzakele, der Junge, der auf dem Schoß von Janusz Korczak saß, sich an ihn drückte, um nicht herunter­zufallen.

Während die Mutter und der Waisenhausleiter mit­einander sprachen, fing der Junge an, das Gesicht des Mannes mit seinen Händen zu erforschen. „Ich mochte besonders seinen Bart, er war so schön und blond. Ich schaute mir auch seine Brille genauer an und beschloss, die Mutti durch seine runden Gläser zu besehen.“ Korczak ließ den Jungen gewähren. „Itzakele, du bleibst jetzt hier und ich gehe nach Hause“, sagte die Mutter zum Abschied. Und der Junge weinte nicht. Diese Erinnerung hat der Künstler in bunten Wasserfarben festgehalten.

Vor dem Portrait von Janusz Korczak

Das Waisenhaus war für das Kind eine „Oase inmitten all des Elends“. Ein Ort ohne Gewalt und Not, an dem Kinderrechte
galten, an dem ein Kinderparlament über das Leben bestimmen konnte. Korczaks pädagogische Schriften, seine Kinderbücher, sein Gefühl für die Kleinsten und deren Seelen sind in den Kanon moderner Pädagogik eingegangen. „Kinder werden nicht erst zu Menschen, sie sind schon welche“ – auf solchen Grund­sätzen gründete der Arzt und Erzieher sein Haus.

Für Belfer nahm alles im Waisenhaus seinen Anfang, auch die Kunst. Korczak und seine Mitarbeiterin Stefa Wilczynska erkannten schnell das Talent des Jungen. Er bekam Stifte und Papier und einen Raum, in dem er jederzeit malen konnte. Sein späteres Kunststudium im Flüchtlingslager auf Zypern und in Tel Aviv, die Lehrtätigkeit, die Ausstellungen in Israel, Deutschland, Frank­reich, Amerika – hier liegt der Grundstein.

Belfer hat seine Zeitzeugenschaft zu seinem Lebensthema gemacht. Über dem Schreibtisch seines Ateliers hängen zwei große Gemälde. Links seine erste Familie, wie er sie nennt: die Mutter, der Großvater, Geschwister und Verwandte. Rechts Janusz Korczak und die Waisenhausfamilie. Beide hat Belfer im Holocaust verloren.

Der Künstler zeigt ein fast kindlich-naives Idealbild vom Waisenhaus

Anfang August 1942, das Waisenhaus war schon drei Jahre lang im Warschauer Ghetto, wurde die Einrichtung geräumt. Janusz Korczak hatte von einflussreichen Freunden Angebote zu seiner Rettung bekommen, aber er nahm sie nicht an. Er und Stefa Wilczynska wollten ihre Schützlinge auf ihrer letzten Fahrt ins Vernichtungslager Treblinka nicht alleinlassen. Dort verliert sich die Spur der Pädagogen und ihrer Kinder. Belfer erfuhr erst nach dem Krieg von Korczaks Tod. Er hatte das Waisenhaus bereits 1938 mit 14 Jahren verlassen. Kurz darauf floh er nach Russland, wo er den Krieg überlebte. 1949 kam er mit einem Flüchtlingsschiff im neu gegründeten Staat Israel an.

Seine Wohnung liegt im Herzen von Tel Aviv, das Meer ist nicht weit, die Erinnerung ist es auch nicht. Zwischen grünen und blühenden Sträuchern stehen einige Skulpturen in Bronze und Gips. Eine zeigt Korczak, wie er den Kindern voran stumm Richtung Treblinka zieht, eine andere Korczak, der seine Arme um die Kinder breitet. „Die Vergangenheit lebt ständig in mir“, sagt Belfer – und das könnte leicht rückwärtsgewandt klingen, wäre der kleine Mann nicht so präsent im Hier und Jetzt.

Auf der Terrasse mit Skulpturen

Belfers Werk funktioniert nicht ohne diese Dialektik von Jetzt und Damals, von Leben und Sterben. In den Szenen aus dem Waisenhaus zeigt der Künstler ein Idealbild, fast kindlich-naiv: kulleräugige Kinder und einen milde lächelnden Korczak in
Wasserfarben. Und man könnte diese Kunst leicht als naiv abtun, gäbe es da nicht, wie ein Negativ, auch die düsteren Bilder in Tinte oder Druckfarbe aus dem Ghetto, den Lagern, von den Massengräbern. Gesicht an Gesicht, die Augen groß und voller Angst.

Belfer hat früh angefangen, über seine Vergangenheit in Vorträgen und vor Schulklassen zu sprechen. Zuerst auf Hebräisch, nach langem Zögern ab den 1990er-Jahren auch in Warschau auf Polnisch. Schließlich kam er auch auf Einladung der Janusz-Korczak-Gesellschaft nach Deutschland. Mehr als 50 Jahre hatte er da kein Jiddisch mehr gesprochen.

„Jeder, der einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden“

Anfangs trafen sich noch mehr als 30 ehemalige Zöglinge regelmäßig in Israel, heute sind es nur noch zwei. Kurz vor
seinem  90. Geburtstag erschien ein Dokumentarfilm über Itzchak Belfer. „Der letzte Korczak-Junge“ (The Last Korczak Boy). Der Titel war Belfer ein bisschen unangenehm. Weil es da ja noch einen anderen lebenden Korczak-Jungen gebe, auch wenn der aufgrund seines Alters nicht mehr in der Lage sei zu erzählen.

Vielleicht war Belfer der Titel auch deshalb unangenehm, weil er es selbst kaum glauben kann, dass er einer der letzten seiner Waisenhausfamilie ist. „Wenn ich an Korczak denke, bin ich wieder das kleine Itzakele, und er ist der alte Doktor“, sagt Belfer. „Korczak war 64, als er starb. Ich bin schon fast 30 Jahre älter. Kannst du dir das vorstellen?“, ruft er und reißt wieder die Augen auf.

Also arbeitet Belfer einfach weiter. „Ich male, ich lebe, ich mache ein Buch“ – so klingt das bei ihm. Obwohl das Alter seine Hände zittern lässt, finden sie auf dem Papier immer noch die Gesichtszüge des alten Doktors. Gerade hat er eine Tür mit bronzenen Intarsien fertiggestellt, sie zeigt den letzten Gang Korczaks und der Kinder in den Tod. Bald soll eine Biografie mit Text und Bildern erscheinen, in der sich seine Geschichte und die Korczaks ineinander verschränken.

Belfers Kunst erzählt von Janusz Korczak

„Jeder, der einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden“, hat Eli Wiesel einmal gesagt. Belfers Erinnerungen, das weiß er, werden in seinem Werk weiterleben. Sein größtes Kor­czak-Denkmal und das einzige seiner Art in Deutschland steht seit zehn Jahren in Günzburg, einer bayerischen Kleinstadt. Belfer hat es zusammen mit seinem Freund, dem langjährigen Vorsitzenden der Deutschen Korczak-Gesellschaft, Siegfried Steiger, und dem Experimentellen Theater Günzburg dorthin gebracht.

Und dann zeigt Belfer noch ein Foto von seinem Sohn in Uniform. 20 Jahre war er im Dienst der israelischen Kriegsmarine. Als er ausschied, sagte er zu seinem Vater, dass er jetzt Pädagoge werden wolle – wie Korczak. „Seit fünf Jahren ist er Erzieher und glücklich“, sagt Belfer. Dann schließt er die Augen und nickt. ­
Sein Sohn heißt Chaim. Das bedeutet: Leben.

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Sehr geehrte Damen und Herren,

wie sehr habe ich mich darüber gefreut einen Artikel über die Dokumentation "The Last Korczak Boy" zu lesen. Vielen Dank! Meine Magisterarbeit beschäftigt sich mit dem Leben und Werk des Janusz Korczak. Die Erlebnisse und Eindrücke von Herrn Belfer zu erfahren, helfen mir sehr, ein genaueres Bild des Arztes, Schriftstellers und Pädagogen Janusz Korczak zu zeichnen. Ein sehr schöner Text, passend zu einem tollen Dokumentarfilm. Die Fotos sind ebenfalls klasse! Beste Grüße aus Frankfurt am Main. Chris Heinrichs