Die Welt bräuchte dringend den moralischen Rückhalt einer Weltkirche. Ein Gastbeitrag von Harald Braun, Staatssekretär des Auswärtigen Amts in Berlin
12.02.2013

Kaum ein Tag, an dem nicht kritische Berichte über den inneren Zustand der katholischen Kirche in den Medien erscheinen. Im Monatsrhythmus machen Themen wie Missbrauch an Schulen, Zurückweisung von Vergewaltigungsopfern  an Kliniken, Diskriminierung von homosexuellen und geschiedenen Mitarbeitern katholischer Einrichtungen Schlagzeilen. Die Tageszeitung DIE WELT titelte am 25. Januar auf Seite eins "Katholiken verlieren die Geduld mit ihrer Kirche" und berichtete von einer Studie, der zufolge Kirchenglieder zunehmend gegen  Zölibat, Sexuallehre, Laienausgrenzung und den Umgang mit Missbrauchsfällen rebellieren. Die Institution katholische Kirche und die Katholiken in Deutschland entfremden sich  voneinander.

Kann uns Protestanten das egal sein? Sollten wir uns gar heimlich darüber freuen? Meine Antwort ist ein  ganz energisches Nein.

Islam auf dem Vormarsch

Werfen wir einen Blick auf die Welt insgesamt: dass der Islam sich weltweit auf dem Vormarsch befindet, stellt für sich allein genommen kein beunruhigendes Phänomen dar. Dass dies zum Teil mit Gewalt, Terrorismus und Verfolgung Andersgläubiger (allzu oft auch Christen) einhergeht, ist dagegen höchst beunruhigend. In dieser Zeit bedürfen wir Christen eigentlich einer großen, weltweiten und Konfessionen  übergreifenden Geschlossenheit. Und unsere Kirchen bedürfen der Nähe zu den Gläubigen in  den praktischen Grundfragen des Lebens, sollten Stütze in der Befassung mit den Herausforderungen des Heute und Morgen und Leitplanke für tagtäglich auftauchende "moralische" Fragestellungen sein. Die Menschen  verlangen nach gemeinsamen Lösungen für die globalen Probleme und Herausforderungen. Leider hat momentan auch die Ökumene keine Konjunktur; die erneute Aufkündigung der vollen Abendmahlsgemeinschaft zwischen Katholiken und Protestanten am Ende des 20. Jahrhunderts lässt  viele Angehörige beider Konfessionen sprachlos.

Nachdem zahlreiche im Zuge der Dekolonisierung etablierte Dynastien und Diktaturen gescheitert waren und auch der arabische Nationalismus sich nicht durchsetzten konnte, beobachten wir in der arabischen Welt und darüber hinaus bis weit nach Asien hinein eine zunehmende Islamisierung von Politik und Alltag. Was den Islamismus so  erfolgreich werden ließ, ist seine Breitenwirkung, das Gefühl umfassender Solidarität zwischen der islamischen Religion, seinen Repräsentanten und den Gläubigen. Der Islam liefert seinen Anhängern nicht nur moralische Richtungsweisung, sondern die Repräsentanten und Organisationen dieser Religion sind dem einfachen Muslim regelmäßig Ratgeber und Helfer in Alltagssituationen. Das gilt bei Sunniten ebenso wie bei Schiiten.

Rückhalt in der Bevölkerung?

Schon die Botschaftsbesetzer in Teheran 1979 waren in der Masse der schiitischen Bevölkerung des Iran so verankert, dass der folgende Sturz des Schah-Regimes auf breiteste Zustimmung stieß. Die schiitische Hizbollah im Libanon bezieht ihre politische Macht aus dem Umstand, dass ihre sozialen Einrichtungen über Jahrzehnte die Ärmsten der Armen überall dort unterstützt haben, wo Staat und säkulare Gesellschaft versagt haben. Ganz ähnlich steht es mit der sunnitischen Hamas im palästinensischen Gaza, und von dort geht seit  langem ein direkter Draht nach Ägypten zu den ebenfalls sunnitischen Muslimbrüdern, die durch Wahlen an die Macht kamen, deren Verlauf zu kritisieren ist, die aber einen eindeutigen Rückhalt der Bewegung in der Bevölkerung  bewiesen haben. Ähnliches gilt für den moderaten Teil der islamischen Bewegungen in der Sahel-Zone, zu der auch der Norden Malis zählt.

Viele Entwicklungen in jenen Teilen der Welt geschehen im Namen eines Islam, der von der Bevölkerung weitestgehend begrüßt wird, weil er den Eindruck zu vermitteln vermag, den Alltag und die Sorgen der einfachen Menschen zu verstehen und Instrumente zur Bewältigung der Sorgen und Probleme bereitzuhalten. Damit ist das Phänomen des Islamismus bei weitem nicht umfassend beleuchtet, aber vielleicht eine  Hilfestellung zum Verständnis des großen  Rückhalts gegeben, den er in den Bevölkerungen genießt.

Wo bleibt der christliche Frühling?

Mit dem Phänomen des gemäßigten, populären Islam stehen wir Christen weltweit in Konkurrenz. Eine vergleichbare Menschen- und Alltagsbezogenheit vermissen wir heute schmerzlich in unseren Kirchen. Dabei rufen die alltäglichen Sorgen ebenso wie die globalen Herausforderungen geradezu nach Lenkung und  Begleitung durch die großen christlichen Konfessionen und ihre leitenden Institutionen. Aber so manchem, was wir aus dem Vatikan oder von der Kanzel hören, fehlt leider jeder Lebensbezug. Wo bleibt der christliche Frühling, insbesondere in Rom? Nach Jahren der  Stagnation bietet die Berufung eines neuen  Papstes hier enorme Chancen.

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Sehr geehrter Herr Braun,

einerseits liefern Sie eine interessante politisch-gesellschaftliche Analyse des Auslands. Andererseits übernehmen Sie jedoch massenmediale Kritik an der Kirche eins zu eins. Meinetwegen mögen Sie die katholische Kirche als unzeitgemäß ansehen, z. B. weil Frauenpriestertum, Scheidung und Abtreibung nicht erlaubt sind.

Es gibt viele Skandale in jeder Kirche, große und kleine. Und zwar deshalb, weil die Kirche aus fehlerhaften Menschen besteht. Auf diese Skandale muss natürlich immer eine zeitgemäße Lösung (auch strafrechtlich etc) gesucht werden. Der andere, ständige "Skandal" steht jedoch am Beginn unseres christlichen Glaubens: Die Tatsache, dass Gott uns so nah geworden ist, seine Liebe bis zum Äußersten gezeigt hat, indem er für uns am Kreuz gestorben und auferstanden ist.

Aus dieser Liebe Gottes zu uns kann man ja eine unglaubliche Wertschätzung jedes Menschen ablesen. Und dies sollten die Kirchen auch zu vermitteln versuchen. Sicherlich gehört dazu auch, dass man diese Menschenfreundlichkeit im Alltag lebt und da haben wir alle viel aufzuholen. Aber gerade der Papst ist ein unglaublicher Menschenfreund: Wenn man ihn Umgang mit Menschen, Alten, Kinder sieht, kann man dies sehen, wie er sich für jeden individuell interessiert.

Wenn man die Enzyklika "Gott ist die Liebe" liest, kann man eine unglaubliche Liebe des Papstes zu den Menschen wahrnehmen.

Lieben bedeutet nicht, alle Wege von Menschen gut zu heißen. Ich wünsche Ihnen Gelegenheit, die für Sie strittigen und unbarmherzig scheinenden Lehrmeinungen mit einem kompetenten Katholiken besprechen zu können. Denn die Position der Kirche kann man immer nachvollziehen, wenn man genug qualifizierte Informationen hat (auch wenn man die Position letztlich nicht teilt). Problematisch ist allerdings, dass dieses Glaubenswissen heutzutage oft nicht einmal mehr bei Katholiken existiert, geschweige denn bei Journalisten.

Und hier müsste die Erneuerung ansetzen: die Erneuerung des Glaubenswissens und der Glaubenspraxis. Aus diesem Wissen ist übrigens auch ein Dialog mit dem Islam auf Augenhöhe möglich und kann zur besseren Akzeptanz beidseits führen.

Herzliche Grüße

...denn: die Frage erscheint mir richtig!
WO bleibt der christliche Frühling?
Erlauben sie mir die Kritik: Polarisation ist da unnütz, wo es um Glauben geht, lieber Harald Braun.
Wir müssen uns (vor allem) an die eigene Nase fassen.
Und zwar kräftig.

Beinahe alle *Kirchenoberen* (gleich welcher couleur) bemühen sich aktionistisch, lautstark und farbenreich. Die Frage ist, ob sie damit jemanden erreichen.
Ich vermute: Eher nicht.

Es geht oft um viel kleinere Dinge....

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Ich glaube, dieser Kommentar, den ich eben im Blog theolounge << http://theolounge.wordpress.com/2013/02/14/die-krise-der-katholischen-kirche-kommt-zur-unzeit/comment-page-1/#comment-14344 >> gepostet habe, interessiert hier auch, deswegen:

Richtig! Krisen kommen eigentlich immer recht ungelegen, man könnte fast sagen zur Unzeit.

Das interessante ist, dass die Krise ja keine Kirchenkrise ist (weil die Kirche ja aus Klerus UND Gläubigen besteht, auch wenn das im Klerus nicht so gerne gehört wird) und auch keine Krise des Glaubens, weil die Sehnsucht nach Transzendenz und Spiritualität ungebrochen ist. Die Befriedigung der Sehnsüchte läuft nur nicht mehr über die Kirchen und deren Glaubensbeamtenschaft.
Eigentlich ist die Krise eine Krise der katholischen Hierarchie und das ist eine gute und gleichzeitig eine schlechte Nachricht.
Gut deshalb, weil die Kirchenhierarchie, im Gegensatz zur Gemeinde der Gläubigen, eine überschaubare Anzahl an Menschen umfasst, die noch dazu ganz vortrefflich, in einem auf Befehl und Gehorsam fußenden, fast möchte ich sagen feudalem, real einer absolutistisch verfassten Monarchie, System organisiert sind. Dieses System müsste bedeutend einfacher zu verändern und zu reorganisieren sein, als die riesige Gemeinschaft der Gläubigen.
Und das ist gleichzeitig die schlechte Nachricht dabei. Nichts ist so schwer zu verändern, wie ein Beamtenapparat, der auf so eingefahrenen Bahnen läuft und so stockkonservativ, ja reaktionär besetzt ist, wie die römisch katholische Hierarchie. Einer hat es in den letzten Jahrhunderten versucht, ist aber an seinen Nachfolgern, die einen außerordentlich erfolgreichen, konservativen rollback durchgesetzt haben, gescheitert.

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Da läuft es einem kalt den Rücken runter, wenn man sieht, dass Personen mit derartigen Ansichten zu Politik und Religion wichtige Ämter in Deutschland bekleiden.

Was Sie, Herr Braun, in Ihrem, mit zahlreichen nebulösen und subtilen Forderungen gespickten Kommentar fordern, ist ganz offensichtlich ein Zusammengehen und Frontmachen der protestantischen und katholischen Christen gegen eine hochstilisierte Bedrohung durch die islamische Konkurrenzreligion. Dieser Beitrag ist ein Musterbeispiel für religiöse Intoleranz und Angstmacherei.

Und mitnichten braucht »die Welt [...] den moralischen Rückhalt einer Weltkirche (!)«, schon allein weil der Großteil der Weltbevölkerung eben nicht christlich ist und sich sogar viele Christen nicht kirchlich gebunden fühlen. Ich bezweifle auch, dass sich selbst die Mehrzahl der europäischen Christen so sehr nach einem (christlichen) Führer sehnt, wie Sie das tun und sich schon gar nicht von so einem antiislamischen und antisäkularen »Kampfaufruf« vereinnahmen lassen würde.

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Zitat aus dem Artikel: "die Repräsentanten und Organisationen dieser Religion sind dem einfachen Muslim regelmäßig Ratgeber und Helfer in Alltagssituationen. Das gilt bei Sunniten ebenso wie bei Schiiten." Und ausgerechnet daran soll es bei den Christen mangeln? Dieser Vorwurf überrascht. Ist jemand im Zweifel, wie er sich anständig aufzuführen hat, wenn die Nachbarsjungen eine Schneeballschlacht kämpfen? Was ist zu tun, wenn es ein Noch-nicht-Pärchen zu verkuppeln gilt? Eine drängende Notlage tut sich auf, weil ein Tätowierter die Weihnachtsgans in Frage stellt? Da ist vielerorts einfühlsame Hilfe in Sicht. Er oder sie braucht z.B. nur in die Kolumne "Im Vertrauen" des Magazins chrismon zu schauen. Für jede nur denkbare Alltagssituation gibt es dort Rat und Hilfe von einer führenden Repräsentantin der christlichen Religion. Es muss also wahrlich niemand zum Islam konvertieren, wenn er scharf auf regelmäßige Tipps von höherer Stelle ist, wie er sauber durchs Leben kommt.

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...einem kalt den Rücken runter, wenn man sieht, dass Personen mit derartigen Ansichten zu Politik und Religion wichtige Ämter in Deutschland bekleiden.

Was Sie, Herr Braun, in Ihrem, mit zahlreichen nebulösen und subtilen Forderungen gespickten Kommentar fordern, ist ganz offensichtlich ein Zusammengehen und Frontmachen der protestantischen und katholischen Christen gegen eine hochstilisierte Bedrohung durch die islamische Konkurrenzreligion. Dieser Beitrag ist ein Musterbeispiel für religiöse Intoleranz und Angstmacherei.

Und mitnichten braucht »die Welt [...] den moralischen Rückhalt einer Weltkirche (!)«, schon allein weil der Großteil der Weltbevölkerung eben nicht christlich ist und sich sogar viele Christen nicht kirchlich gebunden fühlen. Ich bezweifle auch, dass sich selbst die Mehrzahl der europäischen Christen so sehr nach einem (christlichen) Führer sehnt, wie Sie das tun und sich schon gar nicht von so einem antiislamischen »Kampfaufruf« vereinnahmen lassen würde.

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Ich glaube, dass der Kommentarschreiber :Mschneider den Artikel völlig fehlinterpretiert, und insofern auch genau die Argumente liefert, welche Herr Harald Braun eben zu kritisieren versucht, doch tut er dies zu wenig konkret, was den Eindruck "nebulöser", laut Kommentar, "und subtiler Forderungen " zu erwecken scheint . Genau dieser Alleingang der westlichen Christen ist der Grund für das Auseinanderfallen der Religion, das scheinbare, unreflektierte "Wir Brauchen die Kirche Nicht " . Das ist der Statusquo dieser christlichen Weltkirche. im Grunde ist das Auseinanderfallen ein unreflektiertes Symptom der Depression. Ohne Diagnose kann nicht an der Heilung gearbeitet werden, und mit Schuldzuweisungen allein vergeht viel Zeit, und wenig Gutes kann entstehen. Der Rücktrittt des Papstes deutet mir auf die Ohnmacht des Menschen dem Leben und der Macht gegenüber, im Besonderen offenbart er einen sorgsamen Umgang mit sich selbst, und seinen persönlichen Kraftressourcen, er zeigt auch Liebe , Besorgnis, Schwäche , Menschlichkeit, Achtsamkeit und Respekt, politisch wirksam nur als eine natürliche Autorität des Herzens, der Erkenntnis, der klugen Weisung. FAZIT : Es wäre an der Zeit, dies zu erkennen, damit sich die vorwurfsvolle Haltung in eine umsichtige und einsichtige, einsichtig auch in die eigene individuelle Geschichte, verkehren könnte ! Gültig sowohl für die Gesamtheit als auch die einzelnen Teile. So erfahre ich es.