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Liebe Dorothea,
herzlich willkommen in unserer illustren Ost-West-Runde und danke für die Einladung zum Sekt – das Rotkäppchen müssten wir allerdings wohl heimlich nach Wackerbarth einschleusen, das wird nämlich in Freyburg an der Unstrut gekeltert, nicht in Radebeul. Dort gibt es aber auch sehr guten Sekt und Wein – das sage ich übrigens nicht nur, weil ich für eine Reportage dort schon einmal selbst Trauben gelesen habe. (Bei 30 Grad und in der Steillage. Aber ich will nicht klagen, denn ich gebe zu: Ich habe währenddessen viel genascht.)
Rotkäppchen ist trotzdem ein gutes Stichwort, bei dem Sekt handelt es sich immerhin um eine der bekanntesten Ost-Marken, die heute mit einigem Erfolg bundesweit verkauft wird. Auch bei euch in Frankfurt habe ich welchen gefunden, als ich Ende Februar ein Abschiedspaket für die Kollegen in der chrismon-Redaktion geschnürt habe. Zwei Monate später, im April, haben wir vermeldet, dass die Kellerei beim Umsatz erstmals die Eine-Milliarde-Euro-Marke überschritten hat – 25 Jahre nach der Wiedergründung des Unternehmens aus den Händen der Treuhand.
Du hast recht, es hat sich unglaublich viel verändert seit der Wiedervereinigung, Du ahnst gar nicht, wie viel. Und auch ich ahne das nicht so richtig, weil ich damals einfach noch zu jung war. Aber dann schaue ich mir eine große, bunte Grafik an, die in den nächsten Tagen im Rahmen einer Serie zum Mauerfall in unserer Zeitung erscheinen wird, und staune. Die Grafik vergleicht Dresden im Wendejahr 89 und heute, in den verschiedensten Punkten: von der Einwohnerzahl, der Lebenserwartung bis hin zum Wasserverbrauch und der Zahl der Verkehrsunfälle.
23 000 Wohnungen waren im Dresden zur DDR-Zeit nicht bewohnbar
Immer wieder bin ich überrascht. Wusstest du, dass es in Dresden damals über 23.000 Wohnungen gab, die nicht bewohnbar waren? Heute sind es nur noch rund 1.200. Dass die Quecksilberkonzentration in der Elbe damals den oberen Schwellenwert um das 25-Fache überschritten hatte? Heute gibt es keine Überschreitung mehr. Und auch der riesige Unterschied in der Zahl der Verkehrsunfälle: gut 2.100 damals, über 15.000 heute.
Vieles ist besser geworden, die Menschen leben heute länger, bekommen wieder mehr Kinder und können heute wie damals eines von 16 Kinos in der Stadt besuchen. (Interessanterweise ging damals eine Million Menschen mehr in die Vorstellungen, obwohl sich die Zahl der Sitzplätze seitdem verdoppelt hat.)
Aber was die Grafik zum Beispiel nicht zeigt: Auch in Dresden wird der Wohnraum knapp, die Mieten steigen – natürlich ist es längst nicht so schlimm wie in Frankfurt, aber wahrscheinlich geht es bald in dieselbe Richtung. Auch meine kleine, bisher noch ungewöhnlich günstige Wohnung wird gerade vom neuen Eigentümer nach Leibeskräften gentrifiziert, das erste Schreiben, das uns Mieter erreichte, war eine Mieterhöhung von 20 Prozent. Vielleicht war meine Wohnung vor 30 Jahren ja mal eine von jenen, die unbewohnbar waren? Schwer vorstellbar heute. Ob auf die fertige Sanierung mit einem Glas Rotkäppchensekt angestoßen wurde? Ich mache mir auf jeden Fall am Donnerstag eine auf. Zur Feier der Wiedervereinigung.
Auf bald
Deine Dominique