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Liebe Anne,
herzlichen Glückwunsch! Wenn mein Kollege dir „Flieg nich' auf die Dingse“ hinterherruft, während du mein Froschfahrrad aus dem Büro schiebst, dann bist du offiziell eingeostet. Ja eingeostet - nicht eingerostet. So nannte das Kolumnist Harald Martenstein in einer Glosse zur Ossi-Quote im Tagesspiegel Anfang Januar. „Reicht es, als geborener Duisburger 30 Jahre in Dresden gelebt zu haben, ist man dann erfolgreich eingeostet, oder zählen nur reinrassige Ossis, die direkt von Täve Schur abstammen?“, fragte er polemisch. Und: „Wenn sich um die Leitung des „Bundesamtes für Murmeltierschutz“ in Weißwasser eine westdeutsche Frau, ein Ossi und ein Rollstuhlfahrer bewerben und alle sind gleich qualifiziert, wer hat dann eigentlich Vorfahrt?“ Ich musste ein wenig lächeln.
Klar, Ossi-Quote, das klingt total albern. Natürlich ist das im Superwahljahr auch Wählerfang. Aber dass es so wenige Ostdeutsche - Ossis muss man in dem Kontext vielleicht wirklich nicht sagen - in Führungspositionen in den neuen Bundesländern gibt, kann einem schon zu denken geben. Nur ein Beispiel: Die Präsidenten der 25 Obersten Gerichte in Ostdeutschland sind ausschließlich Westdeutsche. Ausschließlich. Der Westen hat zwar eine deutlich größere Fläche als der Osten und damit auch mehr Einwohner. Aber dieses Missverhältnis ist schon eklatant.
Was meinst du: Wollen die Ostdeutschen einfach nicht? Können sie nicht? Oder ist es am Ende ein bisschen wie beim Missverhältnis von Männern und Frauen in Führungspositionen: Befördert oder eingestellt wird, wer den richtigen Stallgeruch hat. Wer „Plastik“ sagt und nicht „Plaste“, „Hähnchen“ und nicht „Broiler“, „Aerobic“ statt „Popgymnastik“.
Wahrscheinlich ist dieses Ungleichgewicht wirklich ein Problem, das sich in den nächsten Jahren von alleine lösen wird, wenn es immer weniger Führungskräfte gibt, die in der ehemaligen DDR geboren wurden. Heutige Schüler sagen wahrscheinlich deutschlandweit bereits „Overheadprojektor“ und nicht mehr, wie ich, „Polylux“. Wie schade, was für ein tolles Wort eigentlich.
Quotenregelungen kommen uns immer irgendwie falsch vor, wie ein unnatürlicher Eingriff in ein System, das sich selbst regulieren sollte. Aber manches reguliert sich eben nicht von alleine, manche Systeme wollen sich stur selbst erhalten, manchmal bewusst, oft unbewusst. Ich finde es toll, dass ihr hier bei chrismon ein Auge darauf habt, wie zum Beispiel das Gleichgewicht von Männern und Frauen im Heft ist, dass beide einigermaßen gleich repräsentiert werden und Frauen nicht etwa nur als Opfer. Weil auch die Welt so ist.
Übrigens: Falls wirklich einmal eine Ossi-Quote eingeführt werden sollte, habe ich möglicherweise gar nicht so gute Chancen. Ich sage nämlich „an Weihnachten“ und nicht „zu Weihnachten“, und manchmal sogar „unter der Woche“ statt „in der Woche“. Regelmäßig höre ich deshalb von meinem Kollegen, ich sei gar kein richtiger Ossi. Dann sage ich, „lass dir deinen Broiler besser in Stanniolpapier einpacken, wenn du erst noch zur Popgymnastik willst“, und schiebe trotzig mein Fahrrad aus dem Büro. Und er ruft mir hinterher: „Flieg nich' auf die Dingse!“