Nikolaikirche Meißen
Nikolaikirche Meißen
Foto: Maren Wulf
Trauer in strahlendem Weiß
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
15.02.2019

Liebe Dominique,

bist du je in der Nikolaikirche gewesen, diese kleine, im Triebischtal? Mein Eindruck: die kennen gar nicht alle Meißener, schon gar nicht von innen. Obwohl die wirklich was Besonderes ist. Das älteste Gebäude der Stadt, ein Ort des Gedenkens an die Opfer des Ersten Weltkriegs, aber komplett ohne Heldengedöns. Sondern die pure, verzweifelte Trauer in reinem Weiß. Aus Porzellan. Gestern war ich dort, der Herr Krause hat mir die Kirche gezeigt und mir ihre Geschichte erzählt. Die ist lang, aber ich beginne jetzt mal im Jahr 1919, da konnte – so Georg Krause, der Architekt und Kirchenvorstand – mit der Kirche aus dem 13. Jahrhundert schon seit einiger Zeit niemand mehr so richtig was anfangen. Wohl aber mit der Idee, die Opfer des gerade vergangenen Krieges zu ehren.

Max Adolf Pfeiffer, der neue Leiter der Königlichen Porzellan-Manufaktur in Meißen, hielt das für eine gute Idee. Die Kirche war quasi die Nachbarin der Manufaktur, es würde dadurch Arbeit geben, und für seinen Chefgestalter Emil Paul Börner (1888-1970) war das ein passendes Projekt. Ohne große Absprache mit dem eher „vaterländisch“ orientierten Kirchenvorstand ging Börner ans Werk. Er war selbst in diesem Krieg gewesen, er wusste, worum es ging – nicht um Glanz und Gloria, sondern ums Leiden und Sterben. Er fertigte 14 Epitaphe an, mit Kacheln für 1815 Namen von gestorbenen Kriegsteilnehmern. Nur Namen stehen da, keine Titel, keine Ränge, überhaupt ist die ganze Kirche frei von Lorbeer und Waffen. Man sieht diese Epitaphe, weiß mit korallenroter Schrift und goldenen Verzierungen, daneben trauern Frauen und Kinder aus schlichtem Porzellan, und sie trauern wirklich ergreifend. Sie ringen die Hände, klammern sich an ihre Fackeln, die sie für die Toten halten, beugen sich schützend über weinenden Nachwuchs, treten auf zerbrochene Schwerter, die Gesichter schmerzverzerrt oder hart wie Stein. Zwei von ihnen stehen, überlebensgroß, vorne neben dem Altar.

Gedacht wird hier aller Toten, die aus Meißen im Krieg gestorben waren. Nicht nur derer aus der Gemeinde der Frauenkirche. Es waren, so ist das damals notiert worden, 1756 Evangelische, 52 Katholische, zwei „Israeliten“ und fünf „Dissidenten“. Acht oder neun Jahre haben Börner und seine Kollegen an der Kirche gearbeitet, bis 1929. Damals, weiß Georg Krause, ist die Gedenkstätte sehr beachtet, aber auch beargwöhnt worden. Später geriet sie in Vergessenheit,  einerseits weil „diese Art der Kunst und des Materials“ in Kitschverdacht gekommen war, andererseits konnte wohl auch die Kirche, die Gesellschaft mit der Art des Totengedenkens lange nichts anfangen. Bis man – nach der Wende – „den traurigen Aspekten der deutschen Geschichte wieder offener gegenüberstand.“ Heute ist die Kirche ein offizieller Erinnerungsort.

Wer hat das Ganze eigentlich bezahlt? Der Manufaktur-Chef hatte zweimal Lotterien veranstaltet, durchaus erfolgreich, aber zur dritten Lotterie kam die Inflation dazwischen. Pfeiffer war ins Risiko gegangen, auch aus Überzeugung. Kein Wunder, dass er die Angelegenheit nicht unbedingt als kirchliche, sondern auch als seine eigene betrachtet hat. In die Stufe zum Altar hat er ein Buddha-Zitat prägen lassen. "Das muss weg!", forderten die Kirchenoberen. Es steht da aber immer noch, wenn auch kaum noch zu entziffern: „Erscheinung vergeht, harret aus im Streben.“

Ja, Erscheinung vergeht. Auch die schneeweiße Trauerkunst in der Nikolaikirche vergeht. Sie platzt geradezu, wenn auch langsam. Das Hochwasser der Triebisch, der feuchte Untergrund, setzen der Kirche zu. Die Porzellan-Epitaphe haben die Künstler und Handwerker wie Öfen gesetzt, auf einem eisernen Grundgestell, auf Schamottesteine wurden die Namenskacheln fugenlos aufgebracht – „fugenlos!“, das macht den Architekten heute fast fassungslos. Wie soll man das abbauen? Und das Eisen oxydiert, dehnt sich aus, treibt das Porzellan auseinander, Risse und Brüche entstehen. „Das ist unumkehrbar“, fürchtet Georg Krause. Aber vielleicht findet sich ja doch noch jemand, der eine Idee hat, wie man diese wunderbare Kirche und ihre Ausstattung retten kann.

Dominique, das musst du dir auch mal anschauen. Bevor die Erscheinung vergeht, wird es noch ein bisschen dauern, aber es wäre jammerschade, wenn man hier der Vergänglichkeit nicht noch für eine Weile Einhalt gebieten könnte...

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Kolumne

Dominique Bielmeier
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Dorothea Heintze
,
Anne Buhrfeind

Zwei Redaktionen, ein Blog: Dominique Bielmeier arbeitet bei der Sächsischen Zeitung in Dresden. Anne Buhrfeind und Dorothea Heintze bei chrismon in Frankfurt. Nun bloggen sie: Über ihren Redaktions-Austausch, ihr Leben als Ossi im Westen, ihr Leben als Wessi im Osten. Und ihren Alltag, hier wie dort.