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In den Sommerferien kamen mehrere Familien meiner Onkel und Tanten zusammen. Es wurde je ein Raum für Frauen und Mädchen und ein Raum für Männer vorbereitet. Einer meiner Cousins hat immer darum gebettelt, in den Raum für die Mädchen und Frauen kommen zu können, dann hat er sich in die Nähe unserer Oma und der Tanten gesetzt und darauf geachtet, was sie sagten.
Er schaute sich meine Schmetterlingshaarspangen an: "Die sind so schön, aber vielleicht ein bisschen hochgesteckt. Kann ich sie an meinem Haar ausprobieren?" „Aber dein Haar ist zu kurz.“, antwortete ich.
"Schande über dich, du bist ein Junge"
Eines Tages kam er in die Garderobe und fragte, ob er meine Kleider sehen könne. Er suchte sich einen roten Rock aus, zog ihn an und dazu die hochhackigen Schuhe seiner Mutter, die vor der Tür lagen und ging dann in den Hof. Als meine Brüder und Cousins ihn sahen, fingen sie alle an zu lachen. "Jungs, schaut mal, was er anhat!!! Schande über dich, du bist ein Junge!" Seine Mutter wurde rot und fing an zu schreien. "Wir haben keine Ehre mehr. Warum hörst du nicht auf, so etwas zu tun. Zieh den Rock aus und zieh deine Schuhe wieder an."
Er sprach mit seinen Schwestern immer wie ein Freund
Ich war sehr verärgert darüber, dass sich alle über ihn lustig machten oder ihn anschrien. Er war der einzige Cousin, bei dem ich mich wohl fühlte. Ich war immer neidisch auf seine Schwestern, denn er kaufte ihnen Haarspangen und Schmuck und sprach mit ihnen wie mit einem Freund.
Der erste Schultag war ein großer Schock für ihn. Als er die Jungenschule betrat, war sein ganzer Körper starr vor Angst und er begann zu weinen. "Ich bin ein Mädchen. Ich muss auf eine Mädchenschule gehen". Die Frauen in der Verwandtschaft waren an seine Anwesenheit in der Frauenraum gewöhnt und nannten Jungs wie ihn „Zanche“ - Männer, die sich wie Frauen verhalten wollen.
Warum schrie seine Mutter immer nur ihn an?
Als ich sechs Jahre alt war, fuhren wir in die Stadt, in der sie lebten. Sie riefen ihn frühmorgens und anstatt zur Schule zu gehen, musste er zuerst Brot holen. Ich weiß nicht, warum seine Mutter ihn immer anschrie. Wenn ich die Schreie hörte, ging ich aus dem Zimmer. Obwohl ich noch sehr klein war, stellte ich mich vor meine Tante und sagte ihr, sie solle aufhören ihn anschreien. "Er ist nicht schuldig. Hast du keine anderen Kinder, die du anschreien kannst, warum nur ihn, ha?" Meine Mutter zog mich an der Hand und stellte mich hinter sie. Mein Cousin stand bedrückt da und ließ Beleidigungen und Demütigungen über sich ergehen, dabei sah er mich an und lächelte. Ich war froh, dass ich ihm ein kleines Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. Aber an diesem Abend am Herd hatte ich keine Worte, um ihn glücklich zu machen.
Das letzte Mal, als wir uns sahen, war ich 18 bei der Trauerfeier unserer Großmutter. Es war ein kalter Winter. Er saß zusammengekauert neben der Heizung, als ob er sich unsicher fühlte. Die Großmutter war die Einzige, die ihn trotz all seines „Andersseins“ unterstützte. Er saß traurig da wie ein kleiner Junge, der gerade seine Mutter verloren hat. Ich war so froh, ihn nach vielen Jahren wiederzusehen. "Wie geht es dir?“, fragte ich. Seine Augen zitterten. "Ich weiß es nicht: Nane (Großmutter) ist nicht mehr da".
"Ich bin jetzt ein Mädchen"
Jetzt nach vielen Jahren rief er mich an. Aus Deutschland. Eine männliche Stimme mit weiblichen Ausdrücken. „Hallo, kennst du mich?“ „Bist du der Cousin?“, fragte ich. „Nein, ich bin jetzt ein Mädchen, ich bin die Cousine.“
„Mein Name ist Diba oder Farah. Was auch immer du bevorzugst, aber benutze auf keinen Fall meinen alten männlichen Namen.“ Ihr Akzent war genau wie der der Großmutter und der alten weiblichen Verwandten. Als ob sie mehr von meiner Großmutter und anderen Frauen in der Familie geerbt hätte. Ihre Art zu sprechen und ihr weiblicher Ausdruck spiegelten ihr wahres Ich besser wider - die Frau in ihr!
Ich war sehr glücklich, dass sie nach Deutschland kam und nun das Leben leben kann, das sie verdient. "Wie kommt es, dass du endlich gekommen bist?"
Ihre Stimme klingt wie die der Großmutter
"Ich konnte nicht mehr in Angst leben. Mein Vater hat mich sogar mehrmals zur Therapie mitgenommen und der Arzt hat ihm gesagt, dass ich ein Mädchen im Körper eines Jungen bin. Mein Vater hat auch gesagt, dass ich hier weggehen soll." Ihre Stimme war laut und voller Lachen.
Seitdem rufen wir uns gegenseitig an, wenn wir traurig sind und uns über alles beschweren, um uns zu beruhigen. Heute sagt sie, sie habe immer noch Angst. Nachts stellt sie ein paar Stühle hinter die Tür, damit niemand kommt und sie abschiebt oder ihr etwas antut. Die Angst all der Jahre verfolgt sie immer noch wie ein schwerer Schatten, und auch in Deutschland hat sie keinen inneren Frieden finden können.
Als Influencerin kämpft sie für LGBTIQ community in Afghanistan
Jetzt ist sie Influencerin auf Instagram und Tik Tok. Sie ist eine Bloggerin, die ihr tägliches Leben für die Afghanen in Form von Lachen und Humor darstellt, um das Wissen über die LGBTIQ zu vergrößern. Sie ist so stark, dass sie trotz aller Beleidigungen und Kommentare unter ihren Videos nicht aufgehört hat zu arbeiten. Wann immer sie kann, nimmt sie an Demonstrationen und sozialen Aktivitäten teil und wenn sie das Mikrofon in die Hand bekommt, bringt sie die Stimme, die ihr Leben lang unterdrückt wurde, zu den Ohren der Menschen.
"Obwohl ich immer noch Angst habe, denke ich an die LGBTQ-Community in Afghanistan. Es vergeht kein Tag, an dem nicht jemand aus Afghanistan eine Nachricht auf mein Instagram schickt und um Hilfe bittet. Ich wünschte, ich könnte etwas für sie tun. In Afghanistan wird man beleidigt, gedemütigt und sogar missbraucht, wenn man ein weibliches Verhalten und ein männliches Aussehen hat. Aber jetzt, wo sich die Machtverhältnisse geändert haben, ist die Situation noch viel schlimmer geworden und ihr Leben ist in Gefahr."
Für mich ist Diba ein Symbol für Mut und Stärke. Aus dem Jungen, der früher meinen kurzen roten Rock trug, ist eine junge Frau geworden, die für Gleichheit und gleiche Rechte kämpft, nicht nur für sich selbst, sondern für alle, die so sind wie sie. Jemand, der trotz aller Ungleichheiten aus den Tiefen der afghanischen Gesellschaft aufgestiegen ist und versucht, einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden und die Sicht der Afghanen auf die bunte Community zu ändern.