Seit mehreren Tagen starre ich auf den Bildschirm meines Handys und scrolle die Videos der iranischen Demonstrationen auf und ab. Ich hoffe und bange gleichzeitig. Ein Teil von mir ist auf der Straße mit den Menschen, die nach Freiheit rufen. Wann ich kann, gehe ich selbst zu Demonstrationen
Die ersten dreizehn Lebensjahre sind wichtig im Leben jedes Menschen und ich verbrachte diese im Iran.
Nach der Zeremonie der „religiösen Verpflichtung“ (eine Zeremonie, die von Schiiten für neunjährige Mädchen abgehalten wird und dazu aufruft, ab diesem Tag Kopftuch zu tragen, zu beten und zu fasten) kam ich nach Hause und meine Mutter schickte mich zum Einkaufen in den Supermarkt. Wie üblich verließ ich mein Zuhause ohne Kopftuch und mit kurzen Ärmeln. Meine iranische Klassenkameradin stand mit ihren Brüdern vor dem Supermarkt und erzählte ihnen von unserer Verpflichtungszeremonie und dass ich trotzdem ohne Kopftuch unterwegs war.
"Wo ist Dein Kopftuch?"
Mein Herz begann laut zu schlagen und ich betrat schnellstmöglich das Geschäft. Ich konnte sie noch hinter den Fenstern hören, wie sie über mich sprachen. Sobald ich den Supermarkt verließ, kamen beide Jungs mit wütenden Augen auf mich zu. „Wo ist dein Kopftuch. Ihr hattet doch heute die Verpflichtungszeremonie!“
Einer der Brüder zog an meiner Hand und die Einkaufstüte fiel auf den Boden. Er schlug kräftig auf meine Hände und fragte immerzu, warum ich kurze Ärmel trug. Beide begannen mir auf den Kopf und meine Hände zu schlagen. Dann rannten sie davon.
Ich kam nach Hause und zeigte meiner Mutter meine Hände, welche rot von den Schlägen glühten. Ich sagte kein Wort. Nichts konnte mich beruhigen. Die Welt um mich herum fühlte sich dunkel an und ich hörte ein lautes Fiepen in meinen Ohren. Gefühle der Unsicherheit und Wertlosigkeit überkamen mich. Diese Gefühle der Benommenheit sind das Ziel des herrschenden Regimes.
"Es geht Dich nichts an"
Es war nicht das Erste und auch nicht das Letzte Mal, dass ich so behandelt wurde. Unsere Schulen brachten uns bei, dass wir in die Hölle kämen, wenn wir unser Haar zeigten. Für viele Jahre fühlte ich mich schuldig, wenn mein Kopftuch verrutschte und Männer einen Blick auf mein Haar erhaschten. Viele Jahre später besuchte ich mit einer Studentengruppe Südindien. Als der Wind des indischen Ozeans sanft durch mein Haar wehte und dabei mein Kopftuch auf meine Schulter glitt, trat ein junger afghanischer Mann an mich heran und forderte mich auf, es wieder aufzusetzen. Es wäre beschämend, dass Ausländer die Haare „unserer“ Mädchen sehen könnten.
Dieser Satz versetze mich zurück in die Situation im Supermarkt und ein Gefühl der Dunkelheit ummantelte mich. Wieder wollte jemand meinen Körper kontrollieren. Also sah ich in seine Augen und sagte: „Ich bin die Tochter meiner Familie und nicht eure Tochter. Es geht Dich nichts an.“
Ich gab nicht nach
Er sah hinüber zu seiner Gruppe von Freunden, mit denen er unterwegs war und forderte mich erneut auf das Kopftuch aufzusetzen. Ich glaube, er hatte eine Wette mit ihnen abgeschlossen. Er wollte mich überzeugen, das Kopftuch zu tragen und nach getaner Pflicht mit Ehre zu ihnen zurückzukehren. Meine Reaktion darauf war gegen seine Erwartung. Ich nahm das Tuch von meinen Schultern, schüttelte mein Haar und verschwand, ohne ein Wort zu sagen.
Während dieser Studentenreise hielten die afghanischen Männer Abstand zu mir. Sie starrten nur und teilten mir durch ihre Blicke mit, dass ich sündigte. Mein offenes Haar schlug ihnen ins Gesicht. Auch wenn ich allein war, fühlte ich mich mehr und mehr wertvoll.
Die Kurdin Jina musste ihren Vornamen in Masha ändern
Jina Amini ist eine von vielen Frauen, die brutal und menschenunwürdig gefoltert und getötet wurde, da ihr Kopftuch verrutschte. Als Kurdin war sie gezwungen ihren Vornamen in Mahsa zu ändern und dieser Name ist jetzt zum Symbol des Kampfes geworden:
Mahsa Amini
Oft werden afghanische und iranische Frauen hinsichtlich ihres Mutes verglichen. Afghaninnen standen vor einem Jahr vor den Kalaschnikows der Taliban, die auf sie zielten. Damals hörte niemand ihre Stimmen. Sie wurden eingesperrt, gefoltert und vergewaltigt. Sie wurden gezwungen, Mitglieder der Taliban zu heiraten. Sie wurden mitten auf der Strasse ermordet und sogar in ihren Häusern überwältigt. Bis heute werden ihre Stimmen nicht gehört.
Männer stehen den Frauen im Iran bei und fordern ihre Freiheit
Der Unterschied zwischen der Frauenbewegung im Iran und in Afghanistan ist die breite Unterstützung von Männern aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Männer stehen den Frauen im Iran bei und fordern ihre Freiheit. Die Frauen Afghanistans waren allein auf den Straßen, denn ihre Männer zogen es vor, zuhause zu bleiben und deren Protest und Interessenvertretung sogar in den sozialen Medien zu kritisieren.
Afghanistan ist wie der Iran ein Land mit Menschen verschiedener Herkunft, Religionen und Sprachen. Jahrzehntelang versuchten die Regierungen, die Menschen aufgrund ihrer Verschiedenheit zu trennen, damit sie sich gegenseitig unterdrücken. Kurden sind eine Minderheit im Iran, welche systematisch diskriminiert werden. Als ich einer kurdisch-iranischen Freundin von der Diskriminierung und dem Rassismus erzählte, den ich im Iran erlebte, seufzte sie und sagte, dass es ihr ebenso ginge.
Jetzt ist ein kurdisch-iranische Mädchen zu einem Symbol der Freiheit geworden. Revolution und Rebellion beginnen oft durch Menschen die Minderheiten angehören. Die meisten Menschen des Landes rufen heute gemeinsam ihren Namen: „Jina, du bist nicht gestorben, du bist ein Symbol der Freiheit“.
Einheit, Solidarität und Bewusstsein
Die anhaltende Demonstration Irans ist eine große Errungenschaft, auch wenn das Regime dadurch noch nicht gestürzt wurde. Diese Bewegung zeigt, dass die Menschen im Iran vereint sind und die Regierung sie nicht länger durch ihre unterschiedliche Herkunft und Religion trennen kann. Obwohl die meisten Demonstranten sehr jung sind, haben sie ein politisches Bewusstsein. Sie sind aufgewachsen mit Instagram, Tiktok und anderen Plattformen. Sie lassen sich ihre Stimme nicht mehr verbieten und vertreten ihre Interessen im Kampf gegen Familie, Schule, Universität und Gesellschaft. Sie stellen sich gegen das Regime des Landes.
Die afghanischen Frauen fühlen den Schmerz ihrer iranischen Schwestern aus ganzem Herzen. Sie entzündeten Kerzen für Jina. Ein junges Mädchen in Kabul tanzte zwischen Ruinen in einem schwarzen Kleid für Jina und die Freiheit der iranischen Frauen.
Farkhunda wurde gesteinigt
Jina erinnerte uns an Farkhunda, ein junges muslimisches Mädchen, welches das Opfer der Brutalität wütender Männer wurde. Hunderte Männer schlugen Farkhunda, überfuhren sie mit einem Auto, warfen grosse Steine auf sie und steckten ihren Körper in Brand. Diese Brutalität entspringt einer extremen Ideologie, dem radikalen Islam. All dies ereignete sich nur wenige Meter von der Polizeistation in Kabul.
Dieser Extremismus möchte nicht nur Frauen und deren Körper kontrollieren, sondern verwandelt junge Männer in aggressive Polizisten, die jedes Wort und jede Bewegung, die nicht ihrer Denkweise entsprechen, attackieren und heftig unterdrücken.
Der iranische Präsident spricht vor der UNO
Es ist wundervoll, dass die Frauen des Iran von überall auf der Welt unterstützt werden. Doch die Stimmen der Menschen sollten immer separat von denen der Regierung betrachtet werden. Die amerikanische Regierung spricht sich heute für die Unterstützung iranischer Frauen aus, doch vor ein paar Tagen sprach der iranische Präsidente vor der UNO, der Mann, der afghanische Frauen in die Hände von Terroristen und Extremisten übergab. Der Westen hat viele humanistische Werte erlangt, doch Frauen, Menschen der LGBTQI und Migrant*innen haben bislang nicht in allen Belangen die gleichen Rechte.
Wir müssen immer für Gleichberechtigung kämpfen, egal an welchem Ort wir uns befinden. Religion, Sprache und unterschiedliche Herkunft sind Ausreden Minderheiten zu unterdrücken. Die Frauen Irans und Afghanistans fordern die Welt auf, ihre Stimme zu sein und jeder sollte mit ihnen rufen und zwar so laut wie möglich: „Frauen, Leben, Freiheit, Brot, Arbeit, Freiheit!“