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Vor einer Weile bin ich aus Kabul zurückgekommen – genau eine Woche bevor die Hauptstadt Afghanistans zusammenbrach. Da gab es noch belebte Basare voller Menschen, überall in der Stadt waren Staus. Ich bin mit meinen beiden Geschwistern in ein neu eröffnetes Café gegangen, welches von einer jungen Frau betrieben wird. Wir tranken Ingwertee und machten Fotos voneinander. Noch immer kann ich uns lachen hören. Als ich mich zum Flughafen aufmachte, begann meine Mutter zu weinen. Ich habe sie fest umarmt und gefragt: „Warum weinst du, ich komme euch bald wieder besuchen.“ Darauf sagte sie: „Ich mache mir Sorgen um dich. Du bist ganz allein in diesem fernen Land.“
Ich lächelte und versicherte ihr, dass es mir in Deutschland gut gehe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, dass meine Familie bald Gefangene in ihrer eigenen Heimat sein würden und ich ihnen trotz aller Bemühungen nicht helfen werden kann. Ich wünschte, ich könnte zurückkehren, um sie noch länger zu umarmen. Ich wünschte, ich wäre nicht in dieses Taxi gestiegen und zum Flughafen gefahren.
In ihren Augen sah ich so viel Hoffnung
Als ich heute in Berlin auf dem Weg zur Arbeit durch einen Park gefahren bin, erinnerte ich mich an die Berge in Kabul mit den vielen bunten Häusern. Es fühlt sich an, als würden mich die bildschönen Berge von allen Seiten in die Arme schließen. Ich erinnere mich an die lächelnden Kinder, die sich jeden Morgen Hand in Hand auf den Weg in die Schule machen. Ich erinnere mich an ein kleines Mädchen, das auf einem Friedhof Wasser verkauft und mir ihren Berufswunsch verrät: Sie möchte später Ärztin werden. Ein anderes Mädchen mit bezaubernden grünen Augen schiebt eine Schubkarre voller Krimskrams vor sich her. Als ich sie frage, ob ich von ihr ein Foto machen darf, sieht sie mich mit ihren leuchtenden Augen an und geht ohne Antwort an mir vorbei.
In den Augen afghanischer Kinder sehe ich vor allem Hoffnung. Trotz aller Armut haben sie große Pläne. Viele Mädchen sind zur Schule gegangen, haben an Universitäten studiert, sind in ferne Länder gereist und kamen voller Ideen und Tatendrang zurück. Sie wurden Unternehmerinnen, eröffneten Cafés und Restaurants, wurden Fußball-Stars oder Künstlerinnen in verschiedensten Bereichen. Sie gingen auf die Straße und kämpften für ihre Rechte und Freiheit.
Ich erinnere mich an die Zeit als ich 13 Jahre alt war, im Jahr 2003, und wir von Iran zurückkehrten nach Afghanistan. Ich war so aufgeregt. Nach den vielen Jahren voller Erniedrigung und Diskriminierung hatte ich endlich eine Identität im eigenen Land. In jeder Ecke der Stadt konnte ich meine Zukunft sehen: Mal wollte ich Bürgermeisterin von Kabul werden, um diese Stadt noch schöner und grüner werden zu lassen, mal wollte ich Lehrerin werden und den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen, mal wollte ich Architektin werden und wunderschöne Gebäude kreieren. Es gab keine Grenzen. Ich hatte viele Träume und man gab uns Hoffnung, sie alle zu verwirklichen.
Die Tochter stirbt vor den Augen ihrer Eltern
Noch immer kann ich die funkelnden gründen Augen dieses einen Mädchens nicht vergessen. Aber jetzt sehe ich darin andere Bilder. Ich sehe Teenager, die sich an ein Flugzeug hängen und herunterfallen und tausende von verzweifelten Menschen, die ohne Essen und Trinken an die Landesgrenzen wandern. Ich sehe ein junges Mädchen an der iranischen Grenze, das vor den Augen ihrer Eltern an einer Schusswunde am Hals stirbt. Junge Männer, die im Pandschschir-Tal gegen die Taliban kämpfen, massakrierte Kinder und mutige Frauen, die auf Demonstrationen zusammengeschlagen werden.
Dann denke ich an meine 15-jährige Schwester, die immer noch in Kabul festsitzt, und mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich hatte sie an ihrem ersten Schultag abgeholt. Als sie mich dort stehen sah, rannte sie auf mich zu und sprang mir in die Arme. Ihr Gesicht war voller Freude und Aufregung und es gab so viel zu erzählen. Sie wurde zur besten Schülerin ihres Jahrgangs und träumte von einer Karriere als TV-Moderatorin. Jeden Abend sprang sie auf den Tisch und hielt uns eine Rede. Bei meinem Besuch letzten Monat erzählte sie mir, sie wolle Journalistin werden und aus vielen verschiedenen Ländern berichten. Manchmal erwischte ich sie beim heimlichen Üben vor dem Spiegel mit imaginären Interview-Partnern. Als ich 15 Jahre alt war, kannten meine Träume keine Grenzen – die Träume meine Schwester sind nun alle zerschlagen.
Wenn ich an all das denke, fällt mir das Atmen schwer und ich spüre die warmen Tränen auf meinem Gesicht. Besonders vor den Nächten habe ich Angst. Angst meine Augen zu schließen und Alpträume zu bekommen. Träume davon, dass die Taliban kommen und meine Familie mitnehmen. Ich schreie im Traum, aber niemand kann mich hören. Niemand kommt um zu helfen. Als meine Schwester noch jünger war, fragte sie mich oft, wo wir uns verstecken würden, wenn die Taliban kommen. Ich nahm ihre Hände, sah ihr in die Augen und versprach ihr, dass sie niemals kommen werden und ich es nicht zulassen würde, dass ihr etwas zustößt. Jetzt kann ich sie nur am Telefon fragen, wie es ihr geht. Sie sagt, ihr gehe es gut, aber sie hat Angst. Ihre Stimme ist voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Ein Gefühl von Scham und Unbrauchbarkeit durchfährt meine Glieder. Ich wünsche so sehr, ihre Hände wieder zu halten und ihr und allen anderen Mädchen zu sagen, dass sie wieder träumen und lachen können.
Ein letztes Mal denke ich an das Mädchen in Kabul mit ihren grünen Augen. Aber das Funkeln ist jetzt erloschen und ihr Lächeln verschwunden. In meiner Erinnerung bleibt nur noch ein ausdrucksloses Gesicht.