Flüchtlingskunst in Kassel: Olu Oguibes Obelisk auf dem Königsplatz. Auf Deutsch, Arabisch, Englisch und Türkisch steht dort geschrieben: „Ich war ein Fremdling, und ihr habt mich beherbergt.“
Flüchtlingskunst in Kassel: Olu Oguibes Obelisk auf dem Königsplatz. Auf Deutsch, Arabisch, Englisch und Türkisch steht dort geschrieben: „Ich war ein Fremdling, und ihr habt mich beherbergt.“
Johann Hinrich Claussen
Offenes Nachdenken
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
04.07.2017

Auf der Documenta muss man dieses Mal weite Wege gehen, von einem Ausstellungsort zum nächsten. Das gibt einem Zeit zum Nachdenken, zum Beispiel über die Frage, ob „Flüchtlingskunst“ immer nur eine ausschließlich gute Idee ist. Denn davon ist in Kassel viel zu sehen.

Natürlich.

Eine Kunst, die sich so gar nicht mit der Welt beschäftigt, die sie umgibt, die keinen eigenen, humanen Blick auf die Wirklichkeit wirft, hat sich selbst verfehlt. Insofern ist es kein Wunder, sondern notwendig, wenn Künstler, von denen ja viele selbst Flüchtlinge, Vertriebene und Weltenwanderer sind, Bilder, Skulpturen und Installationen zu diesem Epochenthema schaffen.

Aber.

Sieht man an einem Ort zu viel Flüchtlingskunst, kann sich auch eine Skepsis einstellen. Ist die Wahl des Themas ästhetisch immer gerechtfertigt? Versucht der eine oder andere Künstler nicht vielleicht doch, sich eine Bedeutung von anderswoher zu verschaffen, die er auf seinem eigenen Gebiet nicht hervorbringen kann? Borgt er sich etwa eine Authentizität, die er selbst nicht hat? Und erschöpft sich sein Werk nicht eben doch darin, beim Betrachter Mitleid zu erregen – ein kostbares, aber kurzlebiges Gefühl, wenn es nicht mit eigenem Nachdenken und praktischem Engagement verbunden ist?

Diese Fragen kann man besonders beim zentralen Stück Kasseler Flüchtlingskunst stellen: Olu Oguibes Obelisk auf dem Königsplatz. Auf Deutsch, Arabisch, Englisch und Türkisch steht dort geschrieben: „Ich war ein Fremdling, und ihr habt mich beherbergt.“

Das Wort Jesu auf antiker Raubkunst

Das ist eigentlich ein Wort Jesu. Seine besondere Pointe besteht darin, das Höchste und das Niedrigste miteinander zu verschränken: Gottes Sohn ist im allerverachtetsten Menschen gegenwärtig. Dieser biblische Ursprung wird auf dem Kunstwerk nicht einmal angedeutet. Deshalb ist hier von der paradoxen Christus-Pointe nichts zu spüren. Es wird stattdessen ein eindeutiges, gesinnungsethisches Prinzip ausgestellt: Ihr sollt Flüchtlinge aufnehmen!

Dafür gibt es gute Gründe, aber ist es nicht problematisch, diese Aufforderung auf einem Obelisk anzubringen? Ein Obelisk ist ursprünglich ein in Stein gehauener Strahl des ägyptischen Sonnengottes Ra und darin auch ein Symbol für den Pharao, also ein antikes Stück politischer Macht-Theologie. Als Raubkunst kam der Obelisk nach Rom und viele Jahrhunderte später in das napoleonische Frankreich. Im neuzeitlichen Europa verband sich dies mit einer kulturimperialistisch-orientalistischen Mode, bevor der Obelisk in zwei gigantischen Ausgaben in der Neuen Welt groß rauskam: Auf der Plaza de la Republica in Buenos Aires sowie im Washington Monument dienen Obelisken von 68 beziehungsweise 170 Metern der nationalen Selbstbeweihräucherung.

Monumentaler moralischer Zeigefinger

Nun ist Oguibes Obelisk nur 16 Meter hoch und der Kasseler Königsplatz (Entschuldigung, liebe Kasselerinnen und Kasseler!) ein eher un-auratischer Ort. Aber man fragt sich doch, was dieses Werk sein soll: die Besetzung eines öffentlichen Platzes durch eine wenn auch sinnvolle politische Meinung, eine gesinnungsethische Machtdemonstration, ein monumentaler moralischer Zeigefinger? Wird so nicht eine Meinungsdominanz proklamiert, die kein offenes Nachdenken eröffnet, sondern den Widerwillen gegen sie schon in sich trägt, weil der Betrachter sich von ihr genötigt fühlt?

Immerhin ebnet der Kasseler Alltag das Übersteuerte dieses Kunstwerks ein: Auf seinem Sockel sitzen Menschen, die Flüchtlinge sein könnten, und arbeiten an ihren Handys. Ob sie den Vers in ihrem Rücken gelesen haben? Und wird die Stadt dieses Kunstwerk über die Documenta hinaus auf dem Königsplatz stehen lassen?

Übrigens: Jesus selbst hat keineswegs von Anfang an alle Fremden geliebt. Er fühlte sich zunächst nur für die „Seinen“ zuständig. Er musste einen mühsamen Weg gehen, bis er seine Heilsbotschaft auch für Ausländer öffnete.

Was lehrt einen das?

Künstler sollten „Flucht und Migration“ zum Thema machen, aber nur, wenn

1. dies für sie ein echtes Anliegen ist,

2. sie das Schicksal von Flüchtlingen nicht benutzen,

3. ihnen etwas ästhetisch Eigenes dazu einfällt und

4. sie damit ein humanes Nachdenken nicht abschließen, sondern eröffnen.

(Für die Kirche lässt sich Entsprechendes sagen.)

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Wenn Herr J. H. Clausen seinen Kulturbeutel mit der Aussage bewirbt, dass auch das Überflüssige lebensnotwendig ist…….hat er wohl seinen Job nicht ganz verstanden.

Es verletzt wahrscheinlich nicht nur meine Empfindungen, eine pauschale Anleitung für eine sogenannte „Flüchtlingskunst“ hier zu lesen. Ich bin froh, dass das allgemeine Kasseler Gemüt das Kunstwerk am Königsplatz ohne viel Kunst- und Kultur-Hintergrundwissen anders einschätzt als der EKD-Kulturbeauftragte. Den Titel ernstnehmend, ist es ein Monument. Ein Monument, das dankbar und würdigend feststellt, in der Fremde Aufnahme gefunden zu haben. Ganz ohne Appell, ganz ohne mahnende Erinnerung oder moralische Aufforderung: „Ich war ein Fremdling, und ihr habt mich beherbergt.“ Viele Menschen hoffen, dass das Kunstwerk dort bleiben wird. Weil es so ganz ohne Zeigefinger einfach „wirkt“.
Die Form des Obelisk greift, so verstehe ich es, herrschaftskritisch historisch zurück und holt eine afrikanische Tradition nun ohne Raub und Kolonialbestreben nach Europa – platziert wird der Obelisk auch nicht im Zentrum des Königsplatzes, sondern außerhalb der Mitte. Dieser „Zeigefinger“ sollte ernst genommen werden und spricht gerade entgegen der Interpretation, dass es sich um eine „Besetzung des öffentlichen Platzes“ handelt.
Stattdessen könnte ich auf den moralischen Zeigefinger am Ende dieses Blogeintrags gut verzichten und bin entsetzt, dass ein weißer europäischer Kirchenmann vier pauschale Ansagen wagt, unter welchen Bedingungen die Kunst „Flucht und Migration“ zum Thema machen sollte bzw. Geflüchtete dies sollten. Das Werk von Olu Oguibe kann gefallen oder auch nicht, kann als gelungen durchgesetzt angesehen oder kritisiert werden. Vielleicht erhielt der Künstler aus Nigeria dafür den Arnold-Bode-Preis ja auch völlig zufällig oder es ließe sich eine Verschwörungstheorie eröffnen (dann sollte diese jedoch bei der documenta, nicht an Oguibes Monument ansetzen?). Aber dass nun von seinem Werk verallgemeinernd ausgegangen wird, um umfassende Regeln für Kunst von Geflüchteten festzulegen, scheint mir ein trauriges Exempel in der Linie von eurozentristischer, männlicher Deutungshoheit (z.B. was ein „echtes Anliegen“ ist, dass der Bibelvers nicht mit Versangabe zitiert ist oder die Neuerfindung der unnötigen Klassifizierung „Flüchtlingskunst“).
Glücklicherweise erlebe ich bei vielen Rezeptionen und Reaktionen auf das Kunstwerk, dass Menschen zu einer kulturübergreifenden Interpretation gelangen, die die Weisheit der Worte Jesu für die aktuelle Zeit, die Gastfreundschaft und die Menschlichkeit im Kunstwerk gewürdigt entdecken, anstatt eine Grenzziehung zwischen „Flüchtlingskunst“ und (allgemeiner?) Kunst zu etablieren.
Was lehrt mich das? Mir fehlen die Worte bei der Überheblichkeit im Beurteilen und Aufstellen von Kriterien, derartes verorte ich in einem vergangenen Zeitalter und ist, Gott-sei-Dank!, in der öffentlichen Wahrnehmung des Kunstwerks, in den Diskussionen und Gesprächen, die die Menschen am Königsplatz in Kassel führen, nicht zu spüren. Ich ahne, dass es hier um die Provokation einer Diskussion geht. Aber die Provokation geht mir doch zu stark an kirchlichen und auch künstlerischen Anliegen vorbei – und einen Schritt zu weit.

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Kunst ist ein Kunstwerk ist ein Kunstwerk ist ein Kunstwerk. Könnte im Sinne Gertrude Steins eine Replik auf den oben stehenden Artikel eröffnen. Kunst kann immer verschiedenes Wollen und darf wohl in erster Linie weitgehend alles. Das muss sie auch dürfen. Insofern ist eine grundlegende Aussage, die einer Kunst, die nicht dies oder das tut, als selbstverfehlt verurteilt, grundlegend falsch. Soweit, so gut.
Zudem bedient sich Kunst in der Regel verschiedener Motive, um Wir(r)kungen zu erzielen. Ehrlich gesagt, empfinde ich den Seitenhieb der geborgten Authentizität anmaßend und für Herrn Claussen äußerst beschämend.
Gleichsam erscheinen mir die darauffolgenden Ausführungen mindestens verstörend. Als Betrachter kann ich die sich im Mitleid erschöpfende Wirkung ebensowenig nachvollziehen, wie als Theologe die verfehlte Christus-Pointe. Aber der Reihe nach:
Ob es sich bei dem Zitat aus Matthäus 25 um ein Wort Jesu handelt, lässt sich nur sehr schwer nachvollziehen. In erster Linie handelt es sich um ein Wort aus der Komposition des Evangelisten Matthäus - und zwar um eines aus den Ausführungen zum Weltgericht. Dieser Text ist selbst ein durch und durch ethischer Text und nicht umsonst zu einem der Grundlagentexte der Diakonie geworden - in der Tat geht es dabei um die Verschränkung des Höchsten mit dem Niedrigsten und der deutlichen Handlungsanweisung, sich auch des Niedrigsten anzunehmen, um dem Höchsten zu begegnen. Allerdings lässt das aus dem Zusammenhang genommene Zitat: „Ich war ein Fremdling, und ihr habt mich beherbergt.“ noch längst nicht auf eben jenen Imperativ schließen. Zuerst ist es bloßes Statement - womöglich des Künstlers oder irgendeines anderen Menschen dieses Planeten. So, und nur so, ist es zugleich Anspruch und Zuspruch in alle vier Himmelsrichtungen. Darüber hinaus bezieht sich das Kunstwerk mit den vier Sprachen sehr deutlich auf einen bestimmten Sprachraum - einen Raum, in dem die großen Buchreligionen (und so auch die christliche) weit verbreitet sind; einen Raum, von politischer Brisanz. Doch dazu später mehr.
Nun sollten Theologen auch wissen, dass die Kompositionen verschiedener Evangelisten mit unterschiedlichen Anliegen verfertigt wurden. So vermuten Neutestamentler, dass der wahrscheinlich aus dem heutigen Syrien stammende Autor Matthäus vor allem die Öffnung der Botschaft Jesu für alle Menschen (also auch Nichtjuden, zu denen der Autor selbst zählte) im Blick hatte, was diverse Stellen nahelegen - nicht zuletzt auch die oben genannte. Zudem ist es - das unterstelle ich - nicht irgendeine Variante dieses ursprünglich ja griechischen Wortes. Es ist weder nach der Übersetzung Luthers, noch der Elberfelder oder anderen gängigen Varianten, sondern es scheint sich um die Version aus der Schlachter-Übersetzung zu handeln - einer Bibel-Übersetzung mit einem grundlegend seelsorgerlichen Ansatz. Ein “Jesus”- oder “Christus”-Verweis würde letztlich nichts zur Sache tun. Denn die Fülle des Mitgemeinten ergäbe sich nie auch nur im Ansatz aus einem solchen Zusatz. Das gesinnungsethische Prinzip liest zuvorderst der Autor des Blogbeitrags - offenbar pikiert - hinein.
Tatsächlich handelt es sich um viele implizite Pointen, von denen die ethische nur eine neben anderen ist.
Was zum Obelisken führt: Kassel hat eine Menge un-auratische Orte - das ist kein Affront gegen Kasseler_innen, sondern der Stadtgeschichte geschuldet. Der Königsplatz befindet sich als großer Rundplatz im Herzen der Stadtmitte. Besser kann ein Ort kaum gewählt sein, um ein Symbol der Macht aufzustellen. Und welches Symbol der Macht würde sich besser eignen, als eines, das seit Jahrtausenden beinahe um die Welt geht, von Großmacht zu Großmacht wandert(e) und ursprünglich nicht nur für politisch-theologische Machtbegründungsmythologie stand, sondern ebenso einen Lichtstrahl (da Sonnengott) meint. Auch hier wird eine Doppelbedeutung sichtbar: Macht und Licht. Dominanz und Hoffnung.
So treffen im Herzen der Documenta-Stadt seelsorgerlich-ethischer Anspruch, der aus (christlicher) Hoffnung wächst auf die Gegenwart und ihre politisch dominanten wie brisanten Schauplätze (zu denen sicher noch mehr zu zählen wären). Vor allem die Schauplätze, die sich entlang der Fluchtrouten nach Europa hin auftun. Daran ist nichts übersteuert, sondern heute wie 2014 notwendig. Vor allem, nachdem sich die politische Linie zu Flucht und Migration geändert hat und immer wieder ändert und das “Wir schaffen das!” dabei keine Rolle mehr spielt. Es allerdings sehr wohl noch immer eine Rolle in der Position der EKD zu Flucht und Migration in Deutschland: “Nächstenliebe unterscheidet nicht. Nächstenliebe heißt, dass jeder hilfsbedürftige Mensch im Blick sein muss.[...] Daher fordert die evangelische Kirche, dass Deutschland schutzsuchenden Menschen hilft – auch über die eigenen nationalen Grenzen und die EU-Außengrenzen hinaus.”
Ist das etwa eine Forderung? Gesinnungsethisch vielleicht sogar? Aber lassen wir das. Der Künstler hat für das Kunstwerk einen guten Ort, eine gute Form und ein gutes Wort gewählt, das sich durchaus auch einfach einmal als Indikativ lesen lassen kann.
Schließlich drei Dinge noch:
1. Künstler_innen können Flucht und Migration zum Thema machen, wie und wann und wo sie wollen.
2. In der Gefühlswelt der ersten Christ_innen zu lesen und zu deuten, meinetwegen, aber in der Gefühlswelt Jesu und seiner Zuständigkeitsgefühle oder Mühsamkeiten, das wagt nicht einmal Gerd Theißen - andere lassen es besser ebenso.
3. Die Aussage: “Jesus selbst hat keineswegs von Anfang an alle Fremden geliebt.” ist nicht nur verstiegen, sie ist grundlegend falsch und recht eigentlich infam!

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Ich widerspreche dem verehrten Verfasser nur ungern :-) Aber 1. kommt mir als gefühlter Halb-Kasseläner der Königsplatz entschieden zu schlecht weg... 2. ist der Obelisk in meinen Augen um ein vielfaches anregender, als die doofe Treppe, die noch lange nach der letzten documenta den Köngigsplatz in der Tat verdoofte. 3. finde ich den Obelisk, vielleicht gerade weil er als Symbol der Macht aus der Ferne schon die Blicke auf sich zieht dann mit der doch überaschenden Botschaft in der Tat anregend. Mein Kulturbeutel neigte den Daumen eher runter bei einer vollkommen ästhetisierenden FlüchtlingsNußSchale in der documenta Halle. Da hat mich der einfach in den Kölner Dom gekippte Original Kahn ganz anders erwischt. In diesem Sinne - liebe Grüße an den Kulturbeutelblogger! Ihr Tobias Götting

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Mir scheint, dass Sie es selbst sehr schwer mit der Nächstenliebe haben oder die Frage in den Raum stellen wer nun noch als Nächster zählen darf. Sie packen scheinbar eine ausländerfeindliche Weltanschauung in einen Beitrag zur documenta 14, welche unter das "Von Athen lernen" trägt.
Dem Leiter der d14 Adam Szymszyklaut spricht davon, dass die Welt nicht allein von Kassel (oder Deutschland) aus erklärt werden kann. Viele aktuelle, INTERNATIONALE Herausforderungen werden behandelt. Es wird hier doch ganz klar zum Nachdenken angeregt über die anhaltenden Auswirkungen durch Kollonialisierung und unsere komplexen Weltwirtschaftszusammenhänge, über das Mitgestalten von gesellschaftlichen Wandel, Menschenrechte und persönliche Lebensgeschichten. Viele kirchliche Initiativen sind hier Mitgestalter und engagiert dabei in Liebe Herausforderungen aktiv zu begegnen. Aber Sie scheinen hier offensichtlich keine Lernbereitschaft zur documenta mitgebracht zu haben, fühlen sich provoziert und sind gar nicht so offen für ein Nachdenken. Wobei Sie sich laut Ihres Titels dieses wünschen.

Also, wissen Sie denn wirklich so genau wie die Welt funktioniert und wen Jesus leicht oder nur schwer lieb hat?? Das kann doch nicht ihr Ernst sein!

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In Ihrem Beitrag unterstellen Sie, daß auf der documenta Künstler, die kein „echtes Anliegen“ haben, das Thema „Flüchtlinge“ missbrauchen, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Sie etablieren den Begriff „Flüchtlingskunst“, zumindest benutzen Sie ihn, später ohne Anführungszeichen. Damit bezeugen Sie, dass Sie offenbar einen Ansatz teilen, in dem die Kunst von Flüchtlingen oder über Flucht von anderer Kunst separiert werden muss, weil sie anders ist, in Ihrer Deutung offenbar minderwertig. Damit sind Sie nicht der erste in den letzten Tausend Jahren, aber diese Zuschreibung, die sich in letzter Konsequenz als Ausdruck von Ausgrenzung, Apartheit und Rassismus verorten lässt, wird nicht wahrer mit der Anzahl der Wiederholungen.
„Auf der Documenta muss man dieses Mal weite Wege gehen, von einem Ausstellungsort zum nächsten.“ Die documenta bespielt schon lange die gleichen Ausstellungsorte, die Wege waren also schon immer so kurz oder lang wie in diesem Jahr. Hinzu kommen bei jeder documenta eine eigene Auswahl an zusätzlichen Standorten, die mal mehr, mal weniger außerhalb des Kerngebiets der Museen, documenta-Halle, Auepark und Kulturbahnhof liegen. Die Wege zwischen den Orten können zum Nachdenken genutzt werden, gut, dass Sie darauf gekommen sind. Leider lässt Ihr Artikel vermuten, dass Ihr Nachdenken kein offenes Ergebnis eines freien Geistes zulässt, im Gegenteil:
Die „Meinungsdominanz“, die Sie kritisieren, bringen Sie selbst im Artikel zum Ausdruck, indem Sie eine Deutung und Kunstregeln vorgeben, anstatt den Besuchern eine eigene Meinung zuzutrauen. Das „offene Nachdenken“, das Sie selbst einfordern, findet bei Ihnen nicht statt. Statt dessen servieren Sie dem Leser Ihre Weltsicht am Beispiel dieses Kunstwerks (gespickt mit Vorurteilen, Mutmaßungen und Vermutungen). Aber es gibt eine breite Basis an Hinweisen und Aussagen des Künstlers selbst, die zu anderen Wegen des Nachdenkens und Schlussfolgerungen führen könnten.
Ihre Vorurteile münden in einen Forderungskatalog, in dem Sie unterstellen, den Künstlern in Kassel wäre das Thema kein echtes Anliegen, sie benutzten das Elend der Flüchtlinge, den Künstlern falle nichts ästhetisches Eigenes oder Neues dazu ein und sie würden das Nachdenken dazu abschließen. Wieder nur Unterstellungen. Haben Sie mit auch nur einem Künstler gesprochen? Oder mit andern Menschen, die das Kunstwerk betrachteten? Jemand an der Schnittstelle von Kunst und Religion wird ohne unvoreingenommenes Hinsehen und -hören und Dialog nicht auskommen.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur