- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Eine freundliche Fügung führte mich fort in die Ferne – fort von meiner verstörten und verbitterten Post-G20-Heimatstadt Hamburg in die hochsommerliche, vom Mistral-Wind durchpflügte Provence. Vor den Toren von Saint Rémy liegt das uralte Kloster Saint-Paul-de-Mausole. In der dortigen Kapelle hatte ich Erfreuliches zu schaffen, davon vielleicht später einmal mehr. Interessanter für den „Kulturbeutel“ ist die Tatsache, dass gleich neben der Kapelle, nur eine Treppe empor und dann um die Ecke, das Zimmer von Vincent van Gogh lag.
Ein Jahr lang war er dort als Patient zwangsweise untergebracht und wurde Therapien unterzogen, die man heute als Folter bezeichnen würde. So krank er war, so große Gemälde hat er dort gemalt. Ich habe viel über van Gogh gelesen, das Bild seines Zimmer stand mir innerlich vor Augen. Aber nun stand ich selbst mitten drin. Etwas beklommen fühlte ich mich, wie ein Eindringling. Wie klein und ärmlich es hier war. Wie hell und sonnenklar der Blick aus dem Fenster auf weite Lavendel-Felder. Wie laut das unaufhörliche Gezirpe unsichtbarer Grillenheere (fast erinnerte es mich an den Hubschrauberlärm meiner G-20-Heimatstadt). In dieser fernen, heißen, winddurchschüttelten Provinz sind Bilder entstanden, die heute noch alle Welt kennt und die definieren, was als klassische Moderne gelten kann. Gemalt hat sie ein bettelarmer, abgrundtief verzweifelter, psychisch gefährdeter Ausländer.
Wie ich so vor seinem Fenster, Tisch und Bett stehe, fallen mir die Worte der Gospel-Sängerin Mahalia Jackson wieder ein, mit denen sie auf die Frage geantwortet hat, wie große geistliche Musik entsteht: „Aus Schmerz und Überzeugung.“ Schmerzen hatte van Gogh wohl mehr als genug, aber trotzdem auch die Überzeugung, dass seine Bilder, die damals kaum einer verstehen konnte, von ihm gemalt werden mussten. Und ich begann zu ahnen: Was die Welt ist, was global gilt, bestimmen nicht die Politiker, sondern einige wenige Künstler.
Übrigens, wenn man sich ein paar Tage lang vom Mistral durchpusten lässt, sieht man van Goghs Bilder aus der Provence anders: Die wilden Linien seiner Getreidefelder und Sternenhimmel müssen nicht nur Ausdruck eines bipolaren Innenlebens sein, sie können auch schlicht die Zeugen von der Macht dieses Windes sein.