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Jedes Jahr kurz vor Weihnachten erklären Familientherapeuten der vorfreudig-fiebrigen Öffentlichkeit, dass sie nicht mit zu hohen Erwartungen in den Heiligen Abend stürzen solle. Das würde unweigerlich zu Enttäuschungen und Streitigkeiten führen. Das ist ein lebensweiser Rat. Man kann ihn allerdings auch auf Weihnachtspredigten anwenden. Also, liebe Weihnachtschristen, erwartet nicht zu viel von den Predigerinnen und Predigern!
Bedenkt erstens, welch vielfältigen und widersprüchlichen Erwartungen sie ausgesetzt sind: Ihre Worte sollen stimmungsvoll sein, aber nicht klebrig, nachdenklich, aber auch besinnlich, gleichermaßen für Herz und Verstand, grundsätzlich und zugleich aktuell, politisch und unpolitisch, zu Lachen soll es etwas geben, doch nicht zu viel, denn eine Träne möchte man ja auch vergießen.
Bedenkt zweitens, dass eine Predigt wenig bewirken kann, wenn man selbst keine Gottesdienstübung mitbringt. Mit der Kirche ist es wie mit dem Fitness-Studio: Wer nur einmal im Jahr hingeht, hat kaum etwas davon. Der Gottesdienst hat mehr mit Training zu tun, als die meisten Protestanten oder Post-Protestanten glauben. Es geht auch um Übung und Wiederholung – dann erst kann sich etwas erfüllen.
Bedenkt drittens, dass nicht nur das Schreiben und Halten einer Predigt ein kreativer Akt ist, sondern auch das Hören. Die Predigt soll nicht direkt wirken, sondern das eigene Denken, Fühlen und Glauben zur Selbsttätigkeit anregen. Als Pastor kennt man diese beglückende Erfahrung, dass Menschen einem manchmal nach Jahren erzählen, wie sehr man ihnen mit einer bestimmten Predigtbotschaft geholfen habe – man selbst aber ziemlich sicher ist, es so niemals gesagt zu haben. Die größten Predigterfolge werden nicht auf der Kanzel gefeiert, sondern geschehen in Kopf und Herz der Hörenden. Deshalb, liebe Weihnachtschristen, überlasst das Predigen nicht euren Pastorinnen und Pastoren, sondern predigt hörend mit!
Zum Schluss noch eine erbauliche Geschichte: Vor wenigen Jahren saß ich Anfang Januar mit Pastorenkollegen zusammen, und wir erzählten von unseren Weihnachtsgottesdiensten. Da sagte einer: „Also, mir ist etwas Seltsames passiert. Am Tag vor Heiligabend hat mir ein Mann zwei wütende Emails geschrieben: Ich sollte es bloß nicht wagen, in der Christmette über Pegida zu predigen, sonst könnte ich etwas erleben! Er würde in der Kirche einen Riesenaufstand machen. Dabei hatte ich das gar nicht vor. Ich wollte doch bloß über die Weihnachtsgeschichte predigen.“ Darauf ein anderer: „Lustig, bei mir war es genau anders herum. Ich habe an Heiligabend auch nur über die Weihnachtsgeschichte gepredigt und bekam gleich am nächsten Morgen die zornige Email einer Frau: Ich hätte ja überhaupt nicht über Pegida gepredigt! Das ganze Weihnachtsfest hätte ich ihr verdorben.“