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Medien-Diät
Eigentlich soll nach Ostern nicht mehr gefastet werden. Doch eine Diät täte gerade jetzt allen gut. Sie wäre viel dringlicher als all diese wechselnden Wunderdiät-Moden und könnte langfristig die herrlichsten Folgen zeitigen. Man kann mit nur drei Schritten beginnen.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
16.04.2021

Es ist ein Widerspruch in sich und trotzdem notwendig: in einem medial verbreiteten Text wie diesem Blog für weniger Medienkonsum zu werben. Denn eines unser Hauptprobleme besteht darin, dass wir stets zu viel und zugleich zu wenig wissen, dass wir viel erfahren, dies aber immer medial vermittelt, dass es dabei vor allem um Emotionen und erst dann vielleicht auch um Informationen geht. Und da Medien, besonders die digitalen, sich fortlaufend beschleunigen, nimmt unser Medienkonsum eine Geschwindigkeit an, die nicht guttut. Aber noch gibt es kein Gesetz, das einen zwingt mitzumachen. Man kann also aussteigen. Das ist einfacher, als man denkt. Ich habe es selbst ausprobiert und empfehle für den Anfang diese drei Schritte.

Als erstes sollte man sich angewöhnen, Texte in den Tempo zu lesen, in dem sie vermutlich verfasst worden sind. Es reicht also, die allermeisten Meldungen oder Kurzkommentare zu überfliegen und nach spätestens einer Stunde innerlich zu löschen. Twitter-Nachrichten kann man sogar schon während des Lesens vergessen. Bei längeren Reportagen oder ausgeruhten Leitartikeln darf man sich mehr Zeit lassen, aber auch nicht zu viel. Zum Vergleich ist es ratsam, jeden Tag ein Gedicht zu lesen, dies aber langsam und mehrfach – morgens, mittags, abends. Denn in dieser Langsamkeit wurde es auch verfasst.

Als zweites sollte man sich angewöhnen, Bildern zu misstrauen. Sie springen einen immer so an und halten doch zumeist nicht, was sie versprechen. Einen unmittelbaren Wirklichkeitseindruck vermitteln sie eben nicht, sondern nur ein vielfach gefiltertes und verzerrtes Image. Und da man schon beim Misstrauen ist, sollte man sogleich auch den eigenen Gefühlen mit größerer Skepsis begegnen, die durch bestimmte Nachrichtenbilder ausgelöst werden. Besonders wenn sie das eigene Empörungszentrum ansprechen, sollte man sie man am besten gleich wieder ausblenden.

Als drittes sollte man versuchen, bestimmte Medien einfach nicht mehr zu konsumieren. Das sagt sich so einfach, ist es aber auch. Ich habe es selbst erfolgreich versucht. Von heute auf morgen habe ich aufgehört, einige sehr erfolgreiche Nachrichten-Websites zu besuchen. Seither geht es mir viel besser. Auch Talkshows schaue ich nicht, von Corona-Brennpunkten ganz zu schweigen. Push-Nachrichten habe ich gelöscht. Durch meine Newsletter-Sammlung fegt gerade ein eiserner Besen. Zum Glück bin ich nicht allein: Ein Journalist vertraute mir kürzlich im Geheimen an, er würde die BILD-Zeitung und deren Website nicht mehr konsumieren, obwohl dies doch unter Journalisten als Pflicht-Lektüre gälte. Aber warum eigentlich? Ich habe ihm gratuliert.

Zum Schluss eine wichtige Unterscheidung: Diät ist etwas anderes als Askese. Sie besteht nicht in einem unmenschlichen Verzicht, sondern in der Einübung eines menschlichen Maßes. Ziel ist ein Weniger, das mehr wert ist, weil es Zeit und Raum schafft für Wichtigeres, zum Beispiel für stillere Gedanken und langsamere Gefühle wie Geduld, Gelassenheit, Ernst, Zuneigung, Heiterkeit.

P.S.: „Angst? – Störung?“. Der Krimi-Autor Sven Stricker („Sörensen hat Angst“) weiß klug und sensibel über eine oft beschwiegene Volkskrankheit zu schreiben. Mit  ihm spreche ich über Angststörungen, in einer neuen Folge meines Podcasts. Man kann sie über die Website von reflab.ch hören.

P.P.S.: Das uralte Gedicht oben im Bild habe ich aus dem wunderbaren Band «Frauen - Lyrik» abfotografiert. Übersetzt heißt es so: "Du bist mein, ich bin dein. / Dessen sollst du gewiss sein. / Du bist eingeschlossen / in meinem Herzen, / verloren ist das Schlüsselchen: / Du musst auch für immer darin bleiben."

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur