jhc
Bach-Christen etc.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
06.03.2020

Es war vor zwei Jahren, da stehe ich bei schlimmstem Hamburger Friedhofswetter in Ohlsdorf an einem Grab. Es war eine traurige und zugleich schöne Beerdigung. Traurig, weil die alte Dame von vielen Menschen sehr geliebt und nun schmerzlich betrauert wurde. Schön, weil so viele mit ihr eng Verbundene gekommen waren und diese Tag gemeinsam begingen. Dann aber – und das überraschte mich doch sehr – kamen nach dem Erdwurf am Grab nicht wenige mit einem Lächeln auf mich zu. Ich war verblüfft, aber selber schuld daran.

Denn in meiner Trauerpredigt hatte ich von meinen Begegnungen mit dieser wunderbaren alten Dame erzählt. Wie sie mit ihrem Mann regelmäßig zu den großen Konzerten in meine damalige Gemeinde gekommen war. Auch gelegentlich zu Gottesdiensten an hohen Festtagen, wenn es Kantaten zu hören gab, war sie in meine Kirche gegangen. Vor allem aber zu Bachs Oratorien. So war sie, obwohl katholisch, für mich ein Gemeindemitglied, doch eines der besonderen Art. Es gibt eine Menschengruppe, die man Bach-Christen nennen kann: Sie gehen weniger in die Kirche, um eine Predigt zu hören, als, um Bachs Musik zu erleben. Das liegt an deren Schönheit, aber auch an ihrer geistlichen Kraft. Sie bietet große Genüsse, ist aber auch eine Herausforderung. Deshalb sind für mich bewusste Bach-Christen nicht nur bildungsselige Kunstgourmets, sondern eben auch Christen. Es gibt im modernen Protestantismus eine legitime Form von Christlichkeit, die zur Kirche eine gewisse Distanz hält, erstaunlich nahe aber rückt, wenn es geistliche Musik zu hören gibt. Denn hier eröffnet sich ihnen die Ahnung einer ganz anderen Welt, der Sinn und Geschmack von Gottes Unendlichkeit.

Davon hatte ich in meiner Predigt gesprochen, und dies hatte einige Trauergäste so angesprochen, dass sie am Grab mit einem fast verschwörerischen Lächeln auf mich zukamen. Bach-Christen, lachten sie mir leise zu, seien sie auch. Dann outeten sich einige als Mozart-Christen. Einer fragte, ob es auch Reger-Christen geben könne oder ob man dafür katholisch sein müsse. Ja, sagte ich: Katholisch und depressiv. Leider war kein Schütz-Christ dabei, zum Glück aber auch niemand, der sich als Wagner-Christ bekannt hätte. Das hätte zu hitzigen Debatten am offenen Grab geführt Nicht vergessen will ich die beiden, die mir am Grab sagten, dass ihnen klassische Musik fremd sei, und mich fragten, ob sie denn als Gospel- und Soul-Christen gelten dürften. Heiter waren all diese Musik-Christen trotz Anlass und Ort, so schien mir, weil sie sich von mir erkannt und anerkannt fühlten. (Ich selbst würde mich als Jazz-Christen bezeichnen.)

Mit fortschreitendem Alter werde ich immer vorsichtiger, wenn es darum geht, den Glauben oder Nichtglauben anderer Menschen zu beurteilen. Immer allergischer werde ich, wenn andere es tun. Allzu oft wird dann mit einem Klischee von Kirchenglauben hantiert, das nur auf wenige passt. Nicht dass mir die Tradition christlicher Lehre, die Institution Kirche oder die christliche Gemeinschaft vor Ort unwichtig wären, aber viel zu oft definieren wir oder – eher noch: definieren sich Menschen aus dem Glauben heraus, die doch auf ihre Weise dazugehören. Das halte ich nicht für weise. Ich weiß nicht, ob und wie wir Theologen diesen Menschen beständig den Eindruck vermitteln, sie wären nicht richtig, glaubten nicht ausreichend, gehörten irgendwie nicht dazu. Oder sie reden es sich selbst ein, definieren sich selbst aus dem Raum des Christlichen hinaus und vermuten, dass wir das ebenso tun. Dabei ist der christliche Glaube doch ein Thema in unendlichen Variationen. Und für viele besteht er in einer besonderen religiösen Musikalität – wobei die Musik, an der sich ihr Glaube entzündet und erbaut, nicht bloß ein Instrument der Verkündigung, ein ästhetisches Transportmittel für eine theologische Frage ist, sondern eine eigenständige Gestalt des Christlichen.

P.S.: Neu erschienen ist ein Buch über ein bemerkenswertes, zehnjähriges Kunstprojekt einer Kirchengemeinde in Prenzlauer Berg, an dem ich mitschreiben durfte – "Passion".

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur