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„Generation horizontal“
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
29.09.2018

Das Kino ist von Beginn an ein Sehnsuchtsort gewesen. Im Abseits der Jahrmärkte wurde es zum Leben erweckt, eroberte dann mit großen Prachtsälen den öffentlichen Raum, wurde zu dem zentralen Medium, das Menschen unterhalten, begeistern, erheitern, rühren, orientieren oder manipulieren sollte. Die Menschen kamen in Scharen, als wäre dies ihr neuer Kirchgang. Für Theologen war dies eine erhebliche Kränkung. Sorgenvoll beäugten sie die junge Konkurrenz und versuchten kontrollierend Einfluss zu nehmen, vergeblich. Da Theologen aber auch irgendwie Menschen sind, begannen einige von ihnen selbst ins Kino zu gehen, mit zunehmender Freude. Ihren Genuss wussten sie dadurch zu steigern, dass sie den Kinogang mit theologischen Suchspielen verbanden. Für einige war dies mehr als ein Spiel, nämlich der ernsthafte Versuch, auch die Kinokultur der Gegenwart als eine „Realisation“ des Christlichen unter den Bedingungen der Moderne zu erfassen.

Doch wie geht man als cineastischer Theologe mit der Entmachtung der „Sinnmaschine Kino“ (Jörg Hermann) um, die gegenwärtig so an Rasanz gewonnen hat? Die Faktoren sind bekannt. Doch wie deutet man sie? Ich beschränke mich auf ein Detail, das vor allem Eltern adoleszenter Kinder beschäftigt: Was bedeutet es, wenn Jugendliche heutzutage Filme vor allem im Liegen und vor kleinen (selten gesäuberten) Bildschirmen anschauen? Es ist ja für Eltern in dieser Lebensphase schwer verständlich, fast unerträglich, dass Jugendliche heute immer so herumliegen. Sie stehen auf, gehen los, kommen zurück und legen sich sofort wieder hin, um alles Weitere in dieser Position zu erledigen: Hausaufgaben machen, mit Freunden kommunizieren, essen, dösen und Filme anschauen. Man kann sie die „Generation horizontal“ nennen. Was bedeutet dieses horizontale Betrachten für die Produktion und die Rezeption von Filmen? Ist dies nur eine Verlusterscheinung? Oder ist nicht auch das Bett (plus digitales Endgerät) eine „Sinnmaschine“? Mir fallen fünf Aspekte ein.

1. Das jugendliche Filmeschauen im Bett ist praktisch und bequem. Ist man früher ins Kino nur deshalb gegangen, weil es nicht anders ging? Das würde manch hochfliegende These vom Kinogang als säkularem Ritus entzaubern.

2. Das jugendliche Filmeschauen im Bett ist intim. Man ist ganz bei sich, muss sich nicht besonders anziehen, kann der sein, der man ist. Die Welt ist draußen. Vielleicht eröffnet das eine Versenkung, wie man sie vom traditionellen Lesen kennt.

3. Das jugendliche Filmeschauen im Bett ist gemeinschaftlich. Jugendliche liegen oft zu zweit, dritt, viert neben- und übereinander da und schauen gemeinsam. Man ist ja nicht nur der Filme wegen ins Kino gegangen, sondern auch in der Hoffnung, sich in der Dunkelheit einem besonderen Mitmenschen annähern zu können.

4. Das jugendliche Filmeschauen im Bett ist nah am Schlaf. Vielleicht verbinden sich da eigene und fremde Traumbilder zu etwas, das nicht so weit vom Glauben entfernt ist. Im stillen Kämmerlein ihres Bettes lösen sie sich von den Zumutungen der Außenwelt, ziehen sich ganz auf sich selbst und ihre Allernächsten zurück, öffnen sich aber zugleich ungeahnten neuen Möglichkeiten des Schauens, Hörens, Selbsterlebens und Selbstverstehens.

5. In der Geschichte des Christentums ist das Liegen ursprünglicher als das Sitzen. Die ersten Versammlungen der frühen Christen waren Mahlfeiern, bei denen die Teilnehmenden zumeist lagen. Das Auf-Kirchenbänken-Sitzen kam erst viel später, vor allem als Folge der Reformation auf. Ob man die jugendliche Abkehr vom Im-Kino-Sitzen und ihre Hinwendung zum Im-Bett-Liegen heute eine unbewusste Rückkehr zum Urchristentum ist?

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur