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Ich beobachte es an mir selbst. Zum Beispiel, wie mich das Foto einer Anti-Corona-Demonstrantin empört hat, die meinte, der Polizei ein übergroßes Kruzifix entgegenhalten zu sollen. Kollegen von mir haben darüber einen Kommentar geschrieben, der mir aus dem Herzen sprach.
Mit ein wenig Abstand frage ich mich jedoch, ob man über jedes Empörungsstöckchen springen sollte, das einem hingehalten wird. Wie allgemein bekannt, hat eine junge Frau aus Kassel bei einer Demonstration unsäglich Dummes von sich gegeben. Aber muss das in der „Tagesschau“ gezeigt und von hohen Regierungsmitgliedern per Twitter kommentiert werden? Ein Ordner hatte doch schon auf der Veranstaltung selbst das Richtige gesagt und getan, seines Amtes gewaltet, indem er es der Dame aus Kassel vor die Füße warf. Das reicht eigentlich.
Bräuchten wir nicht mehr Abstand, um besser beobachten und unterscheiden zu können? Bräuchten wir nicht mehr Distanz zu aktuellen Bildern und Nachrichten, um ernsthafte Anfragen, berechtigten Protest, harmloses Spinnertum, bedenklichen Verschwörungsglauben und hochaggressiven Extremismus zu unterscheiden?
Wäre es nicht eine Aufgabe meiner Kirche, dies zu befördern? Zum Glück gibt es kompetente Kollegen, die einem dazu verhelfen. Zum Beispiel Harald Lamprecht, der sächsische Weltanschauungsbeauftragte, der eine ganz ausgezeichnete Deutung von Verschwörungstheorien und -mythologien auf seiner Website präsentiert. Hier lernt man, was daran ein ganz normaler psychischer Mechanismus zur Verarbeitung von Krisen ist, wo es gefährlich wird und wie damit umzugehen wäre. Ähnliche Orientierungen bieten die Kollegen von der „Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen“ in Berlin.
Ich selbst hatte mich vor drei Monaten in der „Süddeutschen Zeitung“ an einer theologischen Deutung versucht. Ob davon noch etwas relevant ist? Ich hatte versucht, heutige Verschwörungsmythologien, die mit den Corona-Protesten nicht identisch, aber zum Teil verbunden sind, als Gestalten einer apokalyptischer Frömmigkeit zu verstehen, wie sie auch im Christentum eine lange Tradition hat:
Der Apokalyptiker lebt inmitten höchster Bedrängnis. Sein Heil sucht er in einer eindeutigen, aber geheimnisvollen All-Erklärung: Hinter all den Schrecken steht ein verborgener Plan. Das Gros der Menschheit ist verblendet. Nur der Apokalyptiker als metaphysischer Besserwisser blickt durch. Er ist ein Alb-Träumer und zugleich ein genauer Beobachter. Viele reale Details nimmt er auf, um sie zu einer Wahrheit zusammenzufügen, in der kein Rest Unwissenheit bleibt. Seine negative Aufklärung kann gar nicht verstiegen genug sein. Je verrückter sie auf die Mehrheit wirkt, umso sicherer ist er sich seiner Erwähltheit. So kompliziert sie sich gibt, wirkt in ihr doch ein schlichter Mechanismus: Komplexität wird eliminiert, indem eine finstere Macht für schuldig erklärt wird. Ein religiöses Problem allerdings ist, dass der Apokalyptiker sich mehr für Satan als für Gott interessiert und ungewollt in dessen Bann bleibt. Ein moralisches Problem besteht darin, dass er kein Mitleid für andere entwickeln kann. All die Menschen, die seiner Sonderwahrheit nicht folgen, sind für ihn Verworfene, deren Verdammnis eine gerechte Strafe ist. Die Welt ist geschieden in wenige Gute und viele Böse. Eine Verständigung ist unmöglich. Ein letzter Kampf muss die Entscheidung bringen. Diesen malt sich der Apokalyptiker in bunten Gewaltphantasien aus – manchmal bleibt es nicht beim Malen. Von Aggression ist auch sein Selbstverhältnis geprägt: Er hat anders als die „Lauen“ nicht nur die Kraft, das Martyrium auf sich zu nehmen – nein, er will ein Märtyrer werden. Deshalb hilft es so wenig, ihn zu schmähen oder anzugreifen. Das bestärkt ihn nur.
Wie gesagt, ich bin mir unsicher, ob dies noch ein überzeugender Deutungsvorschlag ist. Ein Punkt ist mir aber bleibend bedeutsam: Die Wurzel einer apokalyptischen Frömmigkeit und eines Verschwörungsglaubens ist ein allumfassendes Misstrauen. Deshalb wäre das beste Mittel gegen sie, Vertrauen zu stiften. Das ist gegenwärtig nicht eben einfach. Einreden kann man es niemandem. Wirklich vermitteln lässt sich es allein über gute Erfahrungen, in denen man sich ausgesprochen, kennengelernt und gemeinsam eine Krise gemeistert hat.