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Zwischen dem Hamburger Hauptbahnhof und den Deichtorhallen befindet sich ein Gebäude, in dem mehrere Galerien ihr Zuhause haben. Die erste von ihnen, gleich rechts vom Eingang, heißt Hengevoss-Dürkop und zeigt gerade Bilder des Hamburger Künstlers Thomas Kälberloh. Ich mag seine Bilder. Seit einigen Jahren schon arbeitet er mit alten Postkarten, die er wieder und wieder bearbeitet, so dass aus den ursprünglichen, manchmal ziemlich banalen, bloß touristischen Motiven etwas ganz Neues entsteht, Bilder von einem eigentümlichen – mal bedrohlich, mal heiter wirkenden – Zauber.
Nun hat sich der Künstler für eine neue Serie alte Postkarten von Brücken vorgenommen. Sie stammen aus dem Baltikum zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Auch sie hat er aufwendig und sorgfältig bearbeitet, das jeweilige Motiv Schicht um Schicht freigelegt, es Schicht um Schicht umgestaltet. Die architektonische Struktur tritt klar hervor und verbindet sich zugleich mit neuen Farbflächen, so dass die Ingenieurskunst etwas Traumartiges annimmt. Und wie so oft bei Träumen weiß man nicht sofort, ob es ein Albtraum ist.
Besonders das oben zu sehende Bild geht mir noch nach, die „Brücke Nr. 8“. Das ursprünglich postkartenkleine Motiv ist auf 79 mal 127 cm gewachsen. Das patinaverdunkelte Schwarzweiß des Originals ist zwei neuen Farben gewichen: dem regengrauen Himmel und dem rosagrauen Wasser. Nicht mehr entzifferbare Schriftzeichen bilden den Vordergrund. Sie scheinen wie hohe Gräser aus der Böschung hervorzuwachsen. Wer mag da wem was geschrieben haben?
Noch rätselhafter ist das eigentliche Motiv. Diese Brücke ist erkennbar eine technologisch-architektonische Leistung – gewesen. Aber jetzt ist ihre Mitte schwer beschädigt. Welcher Feind hat sie mit welchen Waffen angegriffen und so verletzt? Von rechts und links führen immer noch die Wege auf sie zu. Doch ein Hinüberkommen dürfte nicht mehr möglich sein. Keine Menschen sind zu sehen. Was sollten sie auch bei einer Brücke, die nichts mehr überbrückt? Nur eine kleine Figur steht unten am rechten Pfeiler und scheint das Unglück zu bestaunen.
(Mir fallen dabei Fotos von 1945 ein, wie Menschen über solche teileingestürzten, zerborstenen, verdrehten Brücken doch noch ans andere, hoffentlich rettende Ufer zu gelangen versuchten.)
Eine Brücke überbrückt Gegensätze, überwindet Trennungen, überwölbt Abgründe, fügt zusammen, was einander fremd ist und doch zusammengehört. Im realen und übertragenen Sinn. Dieser Sinn ist so stark, dass er einen auch dann noch erfasst, wenn der Brücke schwerer Schaden zugefügt wird. Dann wird die zerstörte Brücke zum Denkmal eines Schmerzens und zum Symbol einer Sehnsucht. Sie ruft nach Frieden und Wiederaufbau.
Wie von selbst, aber ganz unaufdringlich lässt dieses ferne, entrückte Brückenbild an all die zerstörten Brücken der Gegenwart denken. Mir fielen natürlich sofort Bilder aus der Ukraine ein: die zerbombten, teil- oder komplettzerstörten Verbindungen zwischen den Ufern, die gekappten Transportlinien. Wann werden sie wieder aufgebaut werden? Wann werden sie wieder einen friedlichen Verkehr von hier nach dort ermöglichen? Die Brücken-Bilder von Thomas Kälberloh geben keine schnellen Antworten, verkünden keine eindeutigen Botschaften, dafür lassen sie einen wacher und intensiver auf die eigene Welt schauen.
P.S.: “Äthiopien: ein vergessener Bürgerkrieg – und was er mit den Kirchen zu tun hat“ – darüber spreche ich in meinem Podcast „Draußen mit Claussen“ mit der ursprünglich aus Tigray stammenden Wissenschaftlerin Aster Gebrekirstos.