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Verzweiflungstrost
Vieles von dem, was aktuell unsere Aufmerksamkeit konsumiert, führt in die Zerstreuung. Deshalb ist so wichtig, sich an Wesentliches zu erinnern – zum Beispiel an ein längst vergessenes Gebet.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
08.12.2022

Vor kurzem habe ich an einem Lesungskonzert mitgewirkt, in dem wir die – gekürzte – Johannespassion von Johann Sebastian Bach mit Texten aus dem christlichen Widerstand gegen das NS-Regime gekreuzt haben. Dabei fiel mir auf, wie sehr diese Märtyrer-Zeugnisse schon in Vergessenheit geraten sind und wie wichtig es wäre, sich erneut ihrer zu erinnern.

Da ist zum Beispiel ein Gedicht/Gebet, das Justus Delbrück 1944/5 in der Haft geschrieben habt. Delbrück entstammte einer bedeutenden Gelehrtenfamilie. Seine Schwester war Emmi Bonhoeffer, die Ehefrau von Klaus Bonhoeffer, dem Bruder von Dietrich. Da er wie diese beiden am Widerstand des 20. Juli beteiligt war, wurde er verhaftet, dann von den Russen befreit, aber gleich wieder verhaftet, um 1945 schließlich in russischer Gefangenschaft zu sterben.

In seiner ersten Haftzeit, als er fürchten musste, jeden Moment von NS-Schergen ermordet zu werden, schrieb er Zeilen, die eine ernste Christlichkeit und eine lyrische Begabung offenbaren – und mich ein wenig an Verse von Jochen Klepper oder Rudolf Alexander Schröder erinnern. Heute, da vieles sich eingedunkelt hat, Besinnung aber Wesentlich selten bleibt, lohnt es sich, dieses Gebet/Gedicht erneut zu lesen und in sich nachklingen zu lassen.

In den Tiefen, die kein Trost erreicht,

Laß doch Deine Treue mich erreichen,

In den Nächten, wo der Glaube weicht,

Laß nicht Deine Gnade von mir weichen,

Auf dem Weg, den keiner mit mir geht,

Wenn zum Beten die Gedanken schwinden,

Wenn mich kalt die Finsternis umweht,

Wollest Du in meiner Not mich finden.

Wenn die Seele wie ein irres Licht

Flackert zwischen Werden und Vergehen,

Wollest Du an meiner Seite stehen.

Wenn ich Deine Hand nicht fassen kann,

Nimm die meine Du in Deine Hände,

Nimm Dich meiner Seele gnädig an,

Führe mich zu einem guten Ende.

P.S.: „Wie ist Jesus weiß geworden?“ – Und wie geht das wieder weg? In meinem Podcast „Draußen mit Claussen“ spreche ich mit der Theologin und Autorin Sarah Vecera über Rassismus auch in der Kirche.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur