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Ein bisschen Gnade, jetzt
Die Welt ist in ungezählten Krisen verfangen. Da braucht es Lieder, um wieder zu Atem zu kommen. Zum Beispiel diese beiden Songs der hierzulande unbekannten Mary Gauthier.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
01.07.2022

Wer beim Stichwort „Country Music“ an rechtsradikale Hinterwäldler und altmodischen Kitsch denkt, sollte Mary Gauthier kennenlernen. Sie zerbricht all diese Klischees mit ihrer Biographie und ihren Liedern.

Geboren wurde sie 1962 in New Orleans. Ihre Mutter gab sie gleich in ein Kinderheim. Nur einmal soll sie – viel später als Erwachsene – mit ihr telefoniert haben. Mary wurde adoptiert. Aber ihr Vater war ein Alkoholiker. Das sollte auch ihr Schicksal werden. Mit zwölf Jahren fiel sie in die Sucht (Alkohol und manches andere). Ihre gesamte Jugend und ihr frühe Erwachsenenzeit waren davon geprägt. So war es auch bei ihrem jüngeren, ebenfalls adoptierten Bruder, der straffällig wurde und ins Gefängnis kam. Dass sie homosexuell war, machte es ihr damals in Louisiana nicht leichter. Mary lief weg. Es folgten ziel- und heimatlose Jahre. Doch mit Ende Zwanzig gelang es ihr, trocken zu werden. Sie machte ein erfolgreiches Restaurant auf – dann aber entschied sie sich, es als Songwriterin zu versuchen. Da war sie schon 32 Jahre alt. Ihr Mut wurde belohnt. In großer Regelmäßigkeit veröffentlicht sie seither Alben, die in den USA ein treues Publikum gefunden haben.

Für mich stechen zwei Lieder heraus. Das eine ist der traurigste Country-Song, den ich kenne, und zugleich der klügste, der je über Alkohol geschrieben wurde. In „I Drink“ beschreibt Mary Gauthier in verstörender Ruhe und abgrundtiefer Klarheit, wie ein Mensch im Alkohol versinken kann, so als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt: „Fish swim / birds fly / daddies yell / mamas cry / old men / sit und think / I drink“.

Auf eine ganz leise Weise glücklich wird man jedoch, wenn man ein anderes Lied von Mary Gauthier hört: „Mercy Now“. Darin zählt sie all diejenigen auf, die jetzt ein bisschen Gnade gebrauchen könnten: ihr Vater zum Beispiel oder ihr Bruder, der in seinen Ängsten so gefangen ist. Aber auch ihre Kirche und ihr Land, die in eine vergiftete Grube gesunken sind und viele Menschen mit sich gerissen haben: „I love my church and country, and they could use some mercy now.“

Ach, wir alle könnten ein bisschen Gnade gebrauchen, gerade jetzt, singt Mary Gauthier, obwohl wir es eigentlich gar nicht verdient haben. So hängen wir zwischen Hölle und Heil. Aber vielleicht, so denkt man beim Hören, könnte uns dieser Wunsch nach Gnade bereit machen, selbst etwas gnädiger mit anderen umzugehen.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur