- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
14. Juli 2021, ein Mittwoch, war im Ahrtal ein regnerischer Tag. So wie die Tage zuvor. Gegen Abend hörte der Regen auf. Die Warnung vor Starkregen blieb bestehen, noch waren wir entspannt.
Sicher, Wasser war schon jetzt immer mal wieder durch ein morsches Fenster in den Kellerraum unseres Hauses gelaufen, wo eine nagelneue, hochmoderne Heizungsanlage stand, die vor einigen Tagen fertig geworden war. Doch dieses Wasser fand seinen Weg zu einem Bodenablauf.
Aus dem normal guten Nachbar wurde der gute Nachbar
Irgendwann später wurde es auf der Straße vor dem Haus lebhaft. Autos fuhren, Fußgänger liefen umher. An der nahen Kreuzung war ein Sandhaufen aufgeschüttet worden. Menschen schaufelten den Sand in Säcke und schleppten ihn zu ihren Häusern. Die Säcke, so erfuhr ich, gab es beim Bauhof, einen Kilometer entfernt. Meine Frau wollte unbedingt welche haben. Wir fuhren hin. Für bereits gefüllte Säcke musste man sich in einer endlosen Schlange anstellen. Leere gab es sofort. 20 pro Haushalt, also die.
Meine Frau ging einmal hin, ich danach. 40 Säcke zum Sandreinschaufeln. Zuhause bastelte der Nachbar eine Barriere aus Schaltafeln und Brennholz vor seiner Garage. Ich schenkte ihm sofort meine Säcke. So wurden wir nach Jahren aus normal guten Nachbarn plötzlich gute Nachbarn. Meine Frau hätte sie lieber behalten. Ich fand die Sackaktion überflüssig: Rund um unser Haus lag Lava. Das Pflastern hatten wir immer wieder verschoben. Entweder würde der Regen durch die Lava versickern, dann würde nichts passieren; oder die Ahr käme zu Besuch (eine für mich zu diesem Zeitpunkt vollkommen groteske Vorstellung), dann wären die Säckchen sowieso sinnlos.
Macht man halt als Pastor - Notfallseelsorge
Wir einigten uns darauf, das morsche Fenster im Heizungskeller abzudichten. Ein Kompromiss. Als wir fertig waren, war ich froh, weil es mir recht anstrengend vorgekommen war. Wir gingen die hundert Meter zur Ahrbrücke und sahen, dass die Unterführung des Radwegs, der parallel zur Ahr Richtung Rhein verläuft, vollgelaufen war. So was war hier und da schon mal vorgekommen. Allerdings fiel auch uns auf: Das Wasser war schnell und laut und führte ungewöhnliche Mengen Treibholz mit. Wir befanden: Das hat noch nichts mit uns zur tun und beschlossen, vor dem Schlafengehen zur Selbstbelohnung für unsere Umsicht (Fenster abdichten; Nachbarn beschenken) ein, zwei Gläschen Wein zu trinken. Als wir eben mit den gefüllten Gläsern anstoßen wollten, klingelte das Telefon. Nach zehn ist das immer unangenehm, weil da bei uns niemand mehr zum Plaudern anruft, auch nicht für die Kinder.
Es war Ella, die Nachbarin, die zwei Häuser weiter wohnt und mit der wir im Leben noch nicht gesprochen haben. Sie ist bei der Freiwilligen Feuerwehr. Einem Kameraden sei soeben ein schlimmes Schicksal widerfahren, kein Notfallseelsorger aufzutreiben. Aufgeregt fragte sie ins Telefon, ob ich kommen könne. Ich sei ja auch Pastor. Klar sagte ich, ich komme gleich.
Ich trank einen ersten Schluck vom Wein (Blanc de noir von der Ahr, gut gekühlt; Wer‘s kennt, wird meine letzte Freude dieser Nacht nachfühlen können); sagte meiner Frau, sie solle ruhig warten, damit wir den Rest der Bouteille noch gemeinsam trinken würden, und fuhr los.
Vier Stunden später traf ich sie mit Tränen in den Augen auf der örtlichen Feuerwehrwache wieder: Wir hatten kein Zuhause mehr. Der Holztisch mit den Weingläsern war indes durch den Raum getrieben und nach dem Hochwasser sanft zurück auf den Boden gesunken. Im Chaos einer völlig wertlosen Wohnungseinrichtung standen unsere Gläser drei Tage später, als sei nichts geschehen. Den Wein haben wir dann nicht mehr getrunken: Er war zu warm geworden.