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Baubegehungen sind mir interessante Ereignisse. Denn ich bin fachfremd. Umgeben von Fachleuten – die in meinen Zusammenhängen leider meist ganz überwiegend Fachmänner sind – gibt es allerhand über unterschiedliche Sichtweisen auf ein Bauwerk zu lernen. Ob jemand primär das Licht sieht oder die Akustik hört, in Statik denkt oder Kosten oder über Fresken informiert ist – es macht den Unterschied.
Die Martin-Luther-Kirche in Neuenahr ist wieder ein aufgeräumter Raum. Das Wasser hinterließ mikadohaftes Durcheinander.
Freiwillige Helfer entwirrten, räumten und putzen, dann kamen Trupps zum Entkernen. Nun steht der Raum unten ohne da und gänzlich leer. Kanzel weg, Taufbecken weg, Altar weg. Keine Bänke, keine Stühle. Besenrein sagt man wohl. Im Boden klaffen hier und da badetuchgroße Löcher. Sie dienten Prüfzwecken, wirken aber, als habe jemand eine Location mit einer Prise Lost-place-Mystery würzen wollen.
An einem kalten Novembermorgen liegt der Raum wie ein unbeschriebenes Blatt da. Architekt und Bauingenieur diskutieren über die Heizung. Fast scheint ihre Leidenschaft für unterschiedliche Lösungen ihre Umgebung um Zehntelgrade zu erwärmen. Vielleicht ist auch nur mein Wunsch der Vater dieser Illusion. Sie wandern hin und her. Der Haustechniker der Kirche und ich bleiben irgendwann einmal zurück.
Der Gemeinde helfen, weil es uns selbst hilft
Da sehe ich einen Stuhl seitlich vor den rohen Stufen der Altarinsel stehen. Er steht verloren dort im Raum, rätselhaft. „Machen Sie hier jetzt Frühstückspause? – Gemütliches Plätzchen!“, versuche ich einen Scherz. Der Mann in Arbeitskleidung sieht mich ernst an. Er kam vor einiger Zeit vom Bau, um Hausmeister zu werden. Nach der Flut lief er zur Hochform auf. Seine Familie verlor ihr Zuhause, mit seiner Frau und den zwei kleinen Töchtern leben sie in einer Mietwohnung der Gemeinde. Unter welchen Bedingungen sie ihr Eigenheim im hochwassergefährdeten Bereich wieder aufbauen können – völlig unklar. Er arbeitet indes. Unermüdlich. Unverdrossen. Weil es der Gemeinde hilft. Weil es ihm hilft, nicht zu grübeln. Wat mut, dat mut auf Rheinisch.
„Hier saß gestern Abend eine Frau im Dunkeln", erzählt er. Die Kirche habe zufällig offen gestanden und er haben sie absperren wollen: "Ist ja lebensgefährlich hier im Düstern. Von der Tür aus habe ich vorne Licht gesehn und gedacht: Was ist jetzt los? Ich gehe näher und da hab ich sie erst entdeckt.“
Hat der einsame Raum diese einsame Frau getröstet?
Er weist auf den Stuhl. „Sie war wohl aus Polen oder Russland dem Akzent nach. Vielleicht so um die fünfzig. Dick eingepackt. Ein Kissen und eine Decke hatte sie dabei. Den Stuhl muss sie sich oben von der Empore herangeschafft haben.“ ‚Was machen Sie hier‘, habe er gefragt. Sie hatte Kopfhörer auf und sagte, sie bete. Sie hatte das Licht entzündet. Er deutet auf den Platz, wo Tage zuvor noch ein schwerer Steinaltar unter dem Kreuz stand. Auf dem Boden drei ausgebrannte Teelichter und eine kleine Flasche. Nicht arrangiert, eher abgestellt. „Ich hab sie vorsichtig nach draußen begleitet. Ein falscher Schritt ...“ Die Teelichter sollten unbedingt weiterbrennen dürfen. Es war ihr wichtig. Er schlägt den Kragen seiner Jacke hoch und starrt auf die leeren Kapseln der Teelichter. „Sie wirkte sehr traurig.“
Schon sind Ingenieur und Architekt wieder präsent, es geht um geregelte Wärme, dass einem die Ohren klingeln. Sie haben recht: Nur durch ihren Sachverstand wird aus einem kalten Baukörper wieder eine behagliche Kirche. Und doch: Vielleicht war der Raum am Vorabend so heilig wie nie zuvor. Jeder erlebt eine Kirche anders. Hat sie geholfen, deine Traurigkeit zu trösten, fremde Frau?
Ich geh nach Hause und fühle mich selbst etwas getröstet. Fast schon eine richtige Adventsgeschichte.