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Es gibt Menschen, die wissen, woran diese Welt krankt. Sie essen kein Fleisch. Sie rauchen nicht. Sie trinken nicht. Sie verzichten auf ein Auto. Sie verweigern sich dem schnöden Mammon. Sie erziehen ihre Kinder richtig oder wissen zumindest, wie das geht. Wenn man ihnen zuhört oder ihre Briefe liest, dann machen sie nichts falsch. Sie stehen immer auf der richtigen Seite. Somit ist klar: An ihrem Wesen würde die Welt genesen. Sie sind die Gerechten, die Auserwählten, die Wissenden.
Nicht genug damit, dass sie selbst längst erkannt haben, wie die Welt zu verbessern wäre. Sie teilen es täglich ungefragt allen anderen mit. Das empfinden sie als ihre heilige Pflicht. Und sie verbergen auch nicht, was sie von jenen halten, die noch nicht auf ihrer Stufe angekommen sind. Sünder, rufen sie. Kehret um! Tuet Buße! Findet auf den Pfad der Tugend. Dorthin, wo sie sich selbst längst wähnen.
Wir Sünder, die wir gerne Fleisch essen und Wein trinken und Auto fahren und uns über ein Schnäppchen freuen, fühlen uns immer ganz schlecht, wenn wir derart tugendhaften Zeitgenossen begegnen. Wir schämen uns, weil wir übergewichtig sind. Wir trauen uns schon nicht mehr zu husten, weil wir einen zornigen Vortrag fürchten, der unseren ungesunden Lebenswandel geißelt. Angesichts solch perfekter Menschen bleibt uns nur das Eingeständnis: Wir sind Versager.
Was uns dann wieder aufbaut mich zumindest und einige meiner Freunde , ist ein Blick in die Bibel. Da findet sich zum Beispiel im Lukas-Evangelium, im 18. Kapitel, folgende Geschichte: Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer und der andere ein Zöllner (die verkommenste Berufsgruppe, die sich Jesus und der Evangelist vorstellen konnten). Der Pharisäer stellet sich für sich allein hin und betete so: O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zwei Mal die Woche, ich gebe den Zehnten von meinem ganzen Einkommen. Der Zöllner aber stand von ferne und wollte nicht einmal seine Augen zum Himmel erheben, sondern er schlug an seine Brust und sprach: O Gott, sei mir Sünder gnädig! Und Jesus, der die Geschichte erzählt, schließt: Ich sage euch: Dieser ging mehr gerechtfertigt in sein Haus hinab als jener. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.
Es ist schön, dass wir Sünder vor Gott Gnade finden. Und damit das so bleibt, wollen wir uns auf unsere Laster nichts einbilden und an uns arbeiten. Wir nehmen uns vor, keine Steine auf die Glashäuser der Gerechten zu werfen. Und wir bekämpfen die Schadenfreude, die uns erfasst, wenn einer vom hohen Ross plumpst, der uns gerade noch im Stil des Sarastro erklärt hat: Wen solche Lehren nicht erfreu'n, verdienet nicht, ein Mensch zu sein! Wobei Letzteres so viel sei zugegeben ziemlich schwer ist.
Es sei gesagt: Hoher Respekt gebührt jenen, die versuchen, anständig und ohne Laster zu leben. Wer wüsste besser als wir, wie anstrengend das ist. Wenn die Reinen nun auch noch die Gabe der Großzügigkeit besäßen (von der Einsicht in die eigene Fehlbarkeit ganz zu schweigen) und darauf verzichteten, uns ständig unsere Lasterhaftigkeit vorzuhalten, wäre das wirklich zu viel verlangt? Wir würden sie glatt auf ein Gläschen Wein einladen.