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Wie geht's dem alten Lehrer? Ich hatte mich, wann immer ich in der Gegend war, nach ihm erkundigt und mich an die stets gleiche Antwort längst gewöhnt: "Gut, sehr gut." Und dann berichteten mir meine alten Freunde aus der Heimat, sie hätten ihn von einer großen Bergtour sprechen hören, die er gerade hinter sich gebracht habe, oder von einer zweiwöchigen Russlandreise, die er demnächst antrete. Von einem 75-Jährigen nicht die schlechtesten Signale.
Doch eines Tages, ein paar Wochen nach seinem runden Geburtstag erreichte mich eine anders lautende Botschaft: Er hat einen Hirnschlag erlitten. Bei einem Routineeingriff im Krankenhaus - noch schnell vor der Russlandreise - hat sich eine Thrombose in der Halsschlagader gelöst und ist nach oben marschiert. Er kann nicht mehr reden und auch nicht schreiben, die rechte Seite ist gelähmt.
Wochen-, nein, ich sage es ehrlich, monatelang habe ich mir vorgenommen, ihn zu besuchen. Es kam immer etwas dazwischen. So habe ich es wahrgenommen. Von heute aus betrachtet gebe ich zu: Ich habe mich auch gedrückt. Ich hatte regelrecht Bammel, ihm, dem ich so vieles verdanke, in seiner Schwäche zu begegnen. Als diese Einsicht langsam heraufdämmerte, schaute ich in den Spiegel und raunzte mich an: "Da erzählst und predigst du deiner Umgebung ständig großartig, dass man dem Leiden nicht feige aus dem Weg gehen soll und bist selbst oberfeige. Toll! Ganz toll, Brummer! "
Ich bin da gewesen. Bei ihm zu Besuch. Vor ein paar Wochen. Er hat sich gefreut. Und wie! Wie ein Kind. Wenn einer nicht reden kann, äußert er sich eben mit fröhlichen Lauten und zappelt wie ein kleiner Junge. Den Rest an Verständnislücken überbrückte seine Frau. Sie stellte ihm in einer Art Multiple-Choice-System Fragen: Meinst du, Arnd Brummer sehe gut aus? Kopfschütteln. Oder müde? Seine Geste sagt: Die Richtung stimmt. Angespannt? Beifälliges Nicken. Sie macht das ganz wunderbar. Wir trinken Tee, ein Kerzlein brennt. Es dämmert. Ich erzähle, was sich seit unserem letzten Treffen vor einigen Jahren bei mir so alles ereignet hat.
Selten bin ich so fröhlich und weinend irgendwo aufgebrochen
Er hatte mich als blutjungen Kerl engagiert, mir journalistisch den Horizont geweitet, mir vertraut und unglaubliche Chancen eröffnet. Das sage ich ihm an diesem Nachmittag. "Ohne dich wäre ich nicht der geworden, der hier sitzt. Du bist neben meinem Vater der wichtigste Mann in meinem Leben gewesen. Ich danke dir für all dies. Und ich hoffe, ich kann den Jungen nach deinem Beispiel begegnen." Ich hatte mir nicht vorgenommen, so mit ihm zu reden. Mit einem Mal war mir einfach danach. Wobei das eigentlich viel zu vorsichtig formuliert ist. Ich zögere. Es hilft nichts, ich muss zu der uralten Formel greifen: Es kam über mich. Woher?
Er hört es gern. Das sehe ich. Doch das ist nicht der Grund für meinen Dank. Es freut mich, dass es ihn freut - aber ich will ihm keine Freude machen. Ich bin es ihm schuldig. Vor allem aber: Ich bin es mir selbst schuldig.
Wir wechseln das Thema, reden darüber, was ihm die Reha gebracht hat. Seine Frau: "Er kann deutlich mehr ausdrücken als vorher." Und er bringt zunächst mit größter Mühe, schließlich aber mit sichtbarer Genugtuung das Wort "Sieben" über die Lippen. Sieben Wochen war er im Sanatorium.
Ich verabschiede mich. Seine Frau möchte mich zur Tür bringen. Energisch besteht er darauf, mich zu begleiten. Wir stehen im Windfang vor dem Haus. Ich strecke ihm die Rechte entgegen. Ein Umarmer war er nie, legte eher Wert auf körperliche Distanz. Jetzt nimmt er mich in seine Arme, drückt mich an sich, küsst mich. Er lacht mich an, während ihm die Tränen runterrinnen, stößt einen Laut aus, der nach ade! klingt.Selten bin ich so glücklich und fröhlich und weinend irgendwo aufgebrochen.