15.11.2010

Wer stundenlang und leicht bekleidet bei Wind und Regen draußen herumläuft, braucht sich über Schnupfen oder Blasenkatarrh nicht zu wundern. Beim Rolling-Stones-Konzert "Satisfaction" alles enthusiastisch mitgebrüllt? Die krächzende Papageienstimme am nächsten Morgen ist vorprogrammiert. "Selbst schuld", sagen liebende Nächste. "Hättest du dich wärmer angezogen, weniger gegröhlt..." Wenn es einem Menschen nicht gut geht, gibt es immer Ratgeber, die einen scheinbar unmittelbaren Anlass für diese Befindlichkeit finden ­ und die Verantwortung für jede Art von Unwohlsein oder Krankheit dem Betroffenen selber zuschieben.

Es leuchtet ein, dass jeder Mensch auf die eigene Gesundheit achten muss. Sich die Lunge mit Zigaretten zuzuteeren, die Leber durch Alkoholgenuss zu vergrößern oder in Extremsportarten stets am Rand des Abgrundes entlangzutrudeln, ist nicht unmittelbar gesundheitsförderlich. Es gibt Verantwortung für den Körper und seinen Zustand, für die eigene Lebensführung und dafür, dass Mitmenschen wohlbehalten existieren können.

Verantwortung ja, aber Schuld? Warum rennt der eine folgenlos halb nackt bei Tiefsttemperaturen herum? Jeder kennt einen Raucher, der mindestens 90 Jahre alt geworden ist, und Vegetarier, die an Krebs erkrankten. Die Ursachen für eine Krankheit sind so komplex, dass "Schuld" immer einen falschen Zusammenhang herstellt. Wer zu den Leiden anderer sagt: "Selbst schuld", will sich Elend vom Leibe halten, möchte dem Unfassbaren einer Krankheit ausweichen. "Selbst schuld" ­ das signalisiert den Wunsch, für die Entstehung von Krankheiten scheinbar vernünftige Gründe zu finden und die eigene Angst vor Leiden zu besiegen.

Man bringt sich ­ vermeintlich ­ in Sicherheit. Einem selbst kann das alles nicht passieren, weil man sich ja nicht so dumm, falsch und ungeschickt verhält wie der, der da krank geworden ist. "Selbst schuld", das schafft Distanz zu jedem fremden Unglück ­ vom Beinbruch angefangen über die in Asien eingefangene Viruserkrankung bis hin zum bösartigen Tumor, der einem hundsgemein Lebenszeit auffrisst. "Selbst schuld" ist seit Hiobs Zeiten eine unmenschliche Auslegung menschlicher Not und Pein.

Wer selber auf die Idee kommt, sich Schuld für seine Krankheit zu geben, braucht liebevolle Begleitung. Auch in einem solchen Fall geht es oft darum, dass ein Mensch das Unheil, das über ihn hereingebrochen ist, für sich begreiflich machen will. Notfalls so, dass er sich selber als Verursacher sieht. Es ist schwer, sinn- und grundloses Leiden zu ertragen, auf die Frage nach dem Warum keine Antwort zu erhalten. Nur leidet man doppelt, wenn man durch Schuldzuweisungen an die eigene Adresse sich auch noch für die Krankheit straft. Das ist sich selbst gegenüber nicht fair.

Die Weltgesundheitsorganisation beschreibt Gesundheit als "positiven funktionellen Gesamtzustand im Sinne eines dynamischen biopsychologischen Gleichgewichtszustandes, der erhalten beziehungsweise immer wieder hergestellt werden muss." Diese komplizierte Definition entspricht uralter, zeitloser biblischer Einsicht. Der Mensch ist ein Beziehungswesen, das vielerlei Einflüssen von außen und innen ausgesetzt ist: sozialen, ökologischen und ökonomischen, seelischen und körperlichen.

Ein Christenmensch kann nach dem tieferen Grund für Krankheiten in seinem Leben fragen, danach, welchen Sinn sie für ihn haben könnten und was er im Blick auf Lebensweise und Lebensstil für Schlussfolgerungen daraus zieht. Als Folge persönlicher Sünden braucht er sie keinesfalls zu sehen. Jesus selbst hat allem, was Menschen und ihre Beziehungen zu sich, zu anderen, zu Gott und der Welt kaputtmacht, immer etwas Innovatives, Heilsames entgegengesetzt. Ursachenforschung hat er keine betrieben ­ und dies seinen deutungshungrigen Jüngern sogar untersagt.

Was genau es ist, das einen aufs Lager zwingt, den Geist oder die Seele verdunkelt, wird man selten eindeutig benennen können. Heutzutage werden Gründe für Erkrankungen gerne allein auf die seelische Ebene verlagert. Niest einer, fragt man, ob er wegen etwas verschnupft sei. Hat eine sich den Magen verdorben, wird gemunkelt, es habe sich ihr etwas auf selbigen geschlagen und liege nun dort. Solche Deutungsmöglichkeiten stehen aber nur einem selbst zu, sonst werden sie leicht zu versteckten Schuldzuweisungen.

Inzwischen erscheint am Horizont eine neue Gefahr. Vorgeburtliche Diagnostik macht möglich, Leben zu selektieren. Auszuwählen, was einem passend erscheint, zu verwerfen, was so anders ist als das angeblich "Normale", dass es als untragbare Belastung erscheint. Schon müssen Eltern, die auf eine solche Auswahl verzichten, sich gelegentlich den mitleidig-anklagenden Satz anhören: "So jemand hätte doch gar nicht erst geboren werden müssen!"

Eltern könnten künftig als Schuldige am Leben ihrer Kinder ausgemacht werden: Weil sie ihre Söhne und Töchter bewusst so akzeptieren, wie sie gezeugt und geboren worden sind, mit ihren Krankheiten, mit Behinderungen und genetischen Veränderungen ­ auch wenn sie das sehr viel Mut und Kraft kostet.

Jemanden als schuld am Leben zu erklären, zu dem nicht nur das Leichte, sondern immer auch das Schwere gehört, das ist ein Akt der Barbarei. Es ist das genaue Gegenteil von dem, was einen wahren Menschen ausmacht ­ Fähigkeit zur Sympathie und Freiheit zur Barmherzigkeit. \

Das meinen Leserinnen und Leser

Seit einigen Wochen liegt meine Freundin sehr krank im Bett. Natürlich wird in der Schule getuschelt: "So dick wie die ist, ist das psychisch." Ich hasse solche Kommentare. Meine Freundin ist nicht so dick, dass sie damit Probleme haben müsste. Erst die dummen Sprüche anderer machen es ihr zum Problem. Und nun lästern sie auch noch, statt ihr beizustehen. Wer ist nun also schuld an ihrer Krankheit?

Antje, 17 Jahre, Neuss

Ihre stets verantwortungsbewusste Lebensführung hat meine Tochter, 24, nicht davor bewahrt, nach einer Lungenembolie Opfer ärztlicher Fehlleistungen zu werden. Seit sechs Jahren liegt sie im Wachkoma. Was würde sie, konfrontiert mit Ihrer Frage, denken? Vielleicht wie der Mann in Borcherts Kurzgeschichte "Die drei dunklen Könige", von dem es heißt: "Er hatte keinen, dem er die Fäuste ins Gesicht schlagen konnte."

Karl-Günther Kittel,

55 Jahre, Sinzing

Wer trotz der Informationen über das Rauchen bis zum Lungenkrebs oder während der Schwangerschaft weiterraucht, macht sich schuldig. Wer betrunken oder nicht angeschnallt Auto fährt und zu Schaden kommt, trägt die Schuld dafür. Für andere muss das aber nicht den Verzicht auf Mitleid, Hilfe und Güte bedeuten. Ich halte es in solchen Fällen aber auch für gerechtfertigt, sich zu distanzieren: "Verlange nicht von mir, deine Sache ernster zu nehmen, als du sie selbst genommen hast!"

Joachim Grabowski,

44 Jahre, Mannheim

Ein armer Mensch kann sich Gesundheit nicht leisten. Auch in Deutschland gibt es immer mehr Menschen, die schon beim Brot sparen müssen. Toastbrot ist preiswerter als Vollkornbrot. Eingeschweißt, mit Konservierungsmitteln behandelt, bleiben am Ende wirklich nur noch die negativen Glyx übrig, die zur angeblichen Wohlstandserkrankung Diabetes führen.

Carola Mantey, 34 Jahre,

Dargun

In vielen kirchlichen Texten wird Krankheit als "Lohn" der Sünde dargestellt, etwa im Lied 320 des pfälzischen Gesangbuchs: "Wiewohl tödliche Wunden sind kommen von der Sünden." Der Pfarrer meinte zwar, das würde nicht stimmen. Aber es wurde gesungen. Um meine Arbeit als Hospizhelfer tun zu können, muss ich mir eigene Antworten zurechtsuchen. Patchwork? Ja, zwangsweise.

Dieter Müller, 74 Jahre, Wachenheim

"Ich will sicher sterben", bestätigte mein Abschiedsbrief. Als ich mit vielen Mühen die Beeinträchtigungen meines Suizidversuchs überwunden hatte, kamen Spätfolgen zum Vorschein. Klare Sache: selbst schuld! Wirklich? Mühsam lernte ich hinzusehen, verdrängte Unerträglichkeiten kamen zum Vorschein. Die Zerstörung hatte schon viel früher begonnen. Also: selbst schuld?

Sabine Ackermann,

43 Jahre, Hamburg

Statt mit Frauen habe ich Kontakte zu Männern. Ein Eingeständnis, das mir schwer fällt. Nach einem Immunstatustest sagte mir ein Arzt, dass ich HIV-positiv sei. Krank ­ selbst schuld? Wenn ich auch verzweifelt war, dieser Gedanke kam nur kurzzeitig. Was ich tat, tat ich als Mensch. Gott hat mich zu diesem Menschen gemacht und nimmt uns mit all unseren "Schwächen" an.

Julian, 33 Jahre, Berlin

Im Vertrauen

Jeden Monat laden wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein, uns Ihre Erfahrungen zu einem vorgegebenen Thema mitzuteilen. Schildern Sie Erlebnisse und Begegnungen, lassen Sie uns an Ihren Beobachtungen teilhaben!

Das Thema im November: Darf ich für meinen Lebenstraum alles drangeben? Plötzlich ist da eine Chance: Auf einmal wäre der Einstieg in ein Künstlerprojekt möglich, aber der alte, sichere Job ernährt bislang die Familie. Oder es ergibt sich die Gelegenheit, ins Ausland zu gehen. Soll man zugreifen, selbst wenn Angehörige darunter leiden?

Zu diesem Thema schreiben Sie uns bitte, mit Angabe Ihres Alters und Wohnorts, bis zum 30. September

chrismon

Stichwort: Im Vertrauen Postfach 203230, 20222 Hamburg E-Mail: im-vertrauen@chrismon.de

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.