chrismon-Chefredakteurin Ursula Ott
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Foto: Katrin Binner
Genuss
Tim Wegner
14.11.2016

Dezember in Berlin. Ein überheiztes Modekaufhaus, überfüllte Umkleidekabinen, stickige Luft. Und dann dieses Schild: „Genießen Sie das WLAN auf unserer gesamten Verkaufsfläche.“ Soll das ein Witz sein? Der Genuss könnte höchstens darin bestehen, subito aus der Verkaufssauna zu fliehen und im heimischen WLAN wohltemperiert im Netz zu bestellen.

Der Duden schlägt als Synonym für Genuss „Sinnenfreude“ vor. In der Werbesprache kommt Genuss meist dann vor, wenn etwas eher unerfreulich, um nicht zu sagen un-sinnenfreudig ist. Wie beim Aktionsbündnis „Alkoholfrei Sport genießen“. Prima Sache, jungen Leuten soll der Spaß am Rausch verdorben werden. Mit einer Saftbar in der Turnhalle und einem Hindernisparcours mit „Rauschbrille“. Pädagogisch zweifellos wertvoll. Aber warum heißt es nicht einfach „laufen statt saufen“? Man muss schon sehr bekifft sein, um mit einer Taucher­maske durch den O-Saft-verklebten Hallenboden zu stolpern und das Ganze als „Genuss“ auszugeben.

Das Wort kann sich offenbar schlecht dagegen wehren, dass es auf Produkte gedruckt wird, die so richtig ärgerlich sind. Zum Beispiel auf den Schinken für 1,99, den billigsten in meinem Supermarkt. Diese rosaroten Labberscheiben heißen, ohne rot zu werden, „Genuss Momente“ – und man fragt sich schon, wessen Sinne da erfreut werden: Die vom Ferkel? Die vom Käufer?

Drum zu Weihnachten mein Wunsch: Gut ­essen, am liebsten Fleisch von glücklichen Schweinen, Lämmern – und Chia-Samen! So geht Genuss, der ja auch was zu tun hat mit Völlerei und Unvernunft. Danach ist das mit dem Abnehmen dran. Muss halt sein, ist doof, aber verschont uns mit Kochbüchern wie „Genussvoll abnehmen“ oder „Genussvoll entsäuern, entschlacken und abnehmen“. Ist nicht alles Genuss im Leben. „Genussvoll abnehmen“ steckt in sage und schreibe 75 Kochbuchtiteln, für wie doof halten die uns eigentlich? Spitzentitel: „Schatz, meine Hose rutscht. Wie Sie ohne Diät genussvoll abnehmen.“ Gibts auch als Hörbuch.

Ich wünsche Ihnen, dass unter Ihrem Baum sinnlichere Hörbücher liegen. Was von Schubert. Was von Brecht. Selbst die Bibel gibts als schönes Hörbuch. Genießen Sie’s!

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Sie haben bei dem Thema gut Lachen - Andere fallen auf die Versprechungen herein und ernten den Frust.
Ansonsten setzt sich die Erkenntnis, dass es beim Abnehmen um ein komplexes Problem geht, ohne Patentlösung, aber mit dem Einsatz der Betroffenen, die selbst schon Experten sind und sich gegenseitig ergänzen können, nur langsam durch, wenn überhaupt.