Das Rätsel der deutschen Mutter
Erielle Bakkum
20.10.2010

Nehmen wir mal den Normalfall. Im einen oder anderen europäischen Land. Stellen Sie sich vor, Sie sind Frau, Ende zwanzig, mit Lebenspartner, wie das heute so schön heißt, und Beruf. Sie wohnen im Pariser Großraum. Und Sie sind glücklich, weil Sie ein Kind erwarten. Es wird Ihr Leben vollkommen verändern. Und trotzdem wird viel bleiben. Ihr Mann, hoffentlich, und Ihr Beruf. Nach drei Monaten bezahltem Mutterschaftsurlaub werden Sie wie Ihre Freundinnen auch Ihr Kind tagsüber in einer Kinderkrippe unterbringen. Sie sehen sich weder in Ihrer Rolle als berufstätige Frau noch in Ihrer Rolle als Mutter defizitär ­ und das tut auch niemand anders um Sie herum. Alles, was den Haushalt angeht, haben Sie so gut es geht delegiert. Sie sind manchmal müde, aber das sind alle Leute mit kleinen Kindern. Nach drei Jahren bekommen Sie vermutlich Ihr zweites Kind. Mit vier Jahren kommt Ihr erstes Kind in die Vorschule, die wie alle Schulen in Frankreich eine Ganztagsschule ist. Kein Karriereknick ist in Sicht; Ihre berufliche Laufbahn hält mit der Ihrer Kollegen Schritt.

Nehmen wir mal einen anderen Normalfall. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie sind Frau, Ende zwanzig, mit Lebenspartner und Beruf. Sie wohnen im Hamburger Großraum. Ihre biologische Uhr beginnt langsam zu ticken. In Ihrem Job und seinen Anforderungen kann man sich, denken Sie, kein Kind leisten. Aber Sie lieben ihren Job. Sie entscheiden sich für den Beruf.

Obwohl Sie glücklich sind, befällt Sie hin und wieder eine leise oder je nach Temperament tiefe Melancholie, kein Kind zu haben. Oder Sie möchten gerne ein Kind und haben damit für sich auch die Entscheidung gefällt, im Job zurückzustecken. Das Kind, das Sie erwarten, wird Ihr Leben grundsätzlich verändern. Fast nichts wird bleiben, wie es ist. Ihr Mann, der als bekennender Vater ursprünglich den Erziehungsurlaub mit Ihnen teilen wollte, tut das sechs Wochen und kehrt dann in den Beruf zurück. Sie richten sich auf die Mutter-Kind-Symbiose ein und er wird auf unabsehbare Zeit zum Alleinernährer der Familie, der sich abends und am Wochenende rührend um die Kinder kümmert. Ihren Beruf haben Sie ein bisschen aus den Augen verloren. Das finden Sie einerseits nicht richtig gut, andererseits gibt es jetzt so viel Neues und Wichtigeres.

Mit zwei Jahren geben Sie Ihr Kind vormittags zu einer Tagesmutter. Oder in eine Kindergruppe. Sie versuchen allmählich, wieder eine Halbtagsstelle zu bekommen. Sie haben eigentlich immer ein schlechtes Gewissen: dass Sie Ihren Beruf nicht richtig gut machen, dass Sie Ihrem Kind nicht genug Liebe geben. Und eben diese Befürchtungen hegt und bekräftigt Ihre Umwelt. Nach zehn Jahren, wenn Sie vielleicht wieder an einen vollen Einstieg in den Beruf denken, können Sie nur noch davon träumen, mit der beruflichen Entwicklung Ihrer ehemaligen Kollegen Schritt halten zu können.

Die familien- und geschlechterpolitische Situation in Deutschland zeichnet sich durch zwei Vorgaben aus, die man seit Jahrzehnten erfolglos unter einen Hut zu bringen sucht. Zum einen möchte man die traditionellen Geschlechterrollen ­ Mann voll berufstätig, Hausfrau mit Nebenverdienst ­ in Richtung Gleichberechtigung verändern. Zum anderen hat man den Wunsch, Kinderbetreuung und Kindererziehung nicht an Institutionen abzugeben, sondern im Schoße der Familie zu belassen. Insofern erschöpft sich die Phantasie in der Forderung: Teilzeit auch für Väter.

Über alle Parteien hinweg zeichnet sich bundesdeutsche Familienpolitik ­ und in dieser Übereinstimmung vom restlichen Europa scharf getrennt ­ durch eine erstaunliche Konstante aus: Sie hat im Gegensatz zu familienpolitischen Anstrengungen in Dänemark oder Frankreich ­ Ländern, die beide eine deutlich höhere Geburtenrate und einen wesentlich geringeren Verdienstunterschied zwischen Männern und Frauen haben ­ nie auf Kinderbetreuung, sondern auf scheinbar so familienfreundliche Mittel wie flexiblen Erziehungsurlaub und "Teilzeit" gesetzt. Unter dem dubiosen Vorzeichen der Vereinbarkeit von Kindern und Beruf leiden nicht nur die Chancen der beteiligten Frauen, sondern das ökonomische Wachstum der mit Kindern "belasteten" Familien.

In Deutschland hat man in breitem gesellschaftlichen Konsens immer die "partnerschaftliche" Umverteilung der Aufgaben innerhalb der Familie und nie deren Übernahme durch außerfamiliäre, gesellschaftliche Institutionen oder private Kräfte angestrebt. Folglich gibt es in der Bundesrepublik kaum Ganztagskinderkrippen. Immer noch ist die Ganztagsschule ein Sonderfall. Statt auf Outsourcing zu bauen, streitet man sich nicht erst seit den sechziger Jahren, sondern seit dem 16. Jahrhundert ebenso fruchtlos wie unverdrossen, wer die Kinder wickeln soll. Und obwohl man mit dem Reformator und Familienvater Martin Luther seit 400 Jahren der fortschrittlichen Meinung ist, dass es wahrer Männlichkeit keinen Abbruch tut, mal ein Kind zu wickeln, ist dies normalerweise Aufgabe der Mütter geblieben.

Dass diese nie auf die einfachste Lösung verfallen sind, das so verbissene wie ergebnislose Ringen mit dem "Partner" aufzugeben und das Kinderwickeln zeitweise einem Kindergärtner oder einer Kinderfrau zu überlassen, ist das Rätsel der deutschen Mutter. Aber vielleicht verdanken wir unser Selbstbewusstsein, Avantgarde in Sachen Emanzipation zu sein, diesem so aussichtslosen wie kindischen Geschlechterkrieg.

Trotz aller gegensätzlichen Beteuerungen, trotz aller bekennenden Väter der 68er-Generation, trotz Neuer Väter der neunziger Jahre, ist die viel beschworene Vereinbarkeit von Beruf und Familie faktisch Frauensache geblieben. Während Elternschaft sich auf die Berufstätigkeit der Frau krass negativ auswirkt, beeinflusst sie die Karriere des Mannes leicht positiv. Vereinbarkeit heißt im Klartext, dass Frauen mit Kindern im Regelfall auf ein volles berufliches Engagement verzichtet haben. Und das ist schade, weil das neben den Kindern eine der schönsten Sachen der Welt ist. Und man Müttern wie Vätern ein erfülltes Berufsleben zugestehen sollte.

Während Familienförderung in Frankreich die Förderung weiblicher Vollberufstätigkeit für Mütter bedeutet, heißt Familienförderung in Deutschland Unterstützung der Frau in ihrer "eigentlichen" Berufung als Ehefrau und Mutter, die mit einer Teilzeitarbeit kompatibel gemacht werden muss. Hierzulande glaubt man an das Dogma, dass beides nicht geht; dass man entweder nur seiner Berufung zur Mutter nachkommen oder sich einem Beruf widmen kann. Dass man sich entscheiden muss zwischen Kindern und Karriere. Und sonst in beidem nicht richtig gut ist, in keinem von beiden glücklich wird.

Das sehen unsere französischen Nachbarn ganz anders. Dank der Betreuung der Kinder im Krippen-, Kindergarten- und Vorschulalter und eines ausgereiften Ganztagsschulsystems sind die Biographien französischer Frauen nicht von dem karrieretötenden Dreiphasenmodell bestimmt, das in Deutschland die Norm ist und entgegen vieler Expertenempfehlungen unbeirrt ausgebaut wird (wie zum Beispiel durch das neue Gesetz zur Flexibilisierung von Teilzeit). Französinnen, die Mütter werden, müssen keine "Familienphase" einlegen, sprich für Jahre ganz aus dem Beruf gehen, um danach halbtags zu arbeiten. Ausbildung und Bildungsabschlüsse der französischen und deutschen Frauen sind mittlerweile in beiden Ländern denen der Männer etwa gleichwertig. In Frankreich schlägt sich die gute Ausbildung in weiblichen Karrieren nieder, die der Mutterschaft keinen Abbruch tun, während Mütter in Deutschland um der Kinder willen beruflich zurückstecken. Ob das Müttern und Kindern gut tut ­ diese Frage stellt kaum jemand.

Während man sich im übrigen Europa darüber einig ist, dass eine frühe Sozialisation unter Gleichaltrigen für die Kinder unverzichtbar ist, weil sie das Miteinander und die Selbstständigkeit fördern, sieht man darin in Deutschland schnödes Abschieben. Hier gilt eine in Psychologie, Pädagogik und Medizin vertretene Lehrmeinung, dass einzig die Erziehung durch die Mutter Garant für glückliche Menschen ist. Die Skepsis der westdeutschen Mutter gegenüber Kinderkrippe und Ganztagsschule ist folglich grenzenlos. Nicht die Ursache, sondern die Folge dieses grundsätzlichen Vorbehaltes ist die schlechte Ausstattung mit Kinderkrippen und die vergleichsweise schlechte Ausbildung und Bezahlung von Kindergärtnern. Daran etwas zu ändern fehlen nicht die Gelder, sondern der politische Wille und das gesellschaftliche Leitbild.

Die Kinder unserer französischen und dänischen Nachbarn sind nicht neurotischer als unsere Kinder. Sie haben keine ernsthaften Leistungsblockaden und sind auch nicht emotional gestört, obwohl dort die ganztägige Betreuung in Tagesstätten und später Schulen zum Alltag gehört. Auch der Familiensinn dort ist nicht weniger ausgeprägt als hier. Es ist nun an der Zeit, den Blick auf die Fakten zu richten, statt sich blind von Idyllen leiten zu lassen, die nie wahr waren, und ein bisschen Europäisierung zu wagen.

Barbara Vinken, Autorin des Bestsellers "Die deutsche Mutter. Der lange Schatten des Mythos" und Schöpferin der heftig debattierten These von der "selbst gewählten Ohnmacht der Frauen", ist seit 1999 Professorin für Romanistik in Hamburg. Sie lehrt auch in New York, Berlin und Paris

Unentwegt ein schlechtes Gewissen:

Mache ich meinen Beruf gut genug?

Das Schattendasein der Kinderkrippen:

Folge einer politischen Fehlentscheidung

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