15.11.2010

Zurzeit ist es ein Gebetswürfel, der die Kinder begeistert. Ein Holzwürfel, auf dessen sechs Seiten jeweils ein Abendgebet steht. Unser neunjähriger Sohn bekam ihn geschenkt. Und bald führte der Würfel zu einem Familienritual, das auch die beiden jüngeren Brüder ­ unsere Tochter ist noch zu klein ­ des Abends wünschen. Manchmal würfeln sie so lange, bis der Lieblingstext erscheint. Oder sie schummeln ihn sogar herbei. Dann lesen sie "rein zufällig" das Gebet, auf das sie es abgesehen hatten. Gott "gute Nacht" sagen: Kinder können dies in einer Unbefangenheit und in einem Vertrauen, von dem wir Erwachsenen lernen können. Dass da jemand ist, der zuhört, mit schöner Regelmäßigkeit an jedem Abend: Für Kinder ist das eine ausgemachte Sache.

Kinder lieben Rituale ­ und sie brauchen sie. Manche Rituale bleiben Wochen, manche ein ganzes Leben lang. Kinder erfahren Glauben am direktesten, wenn sie ihn in der eigenen Familie miterleben. Wo Eltern oder Großeltern zur Kinderbibel greifen, um jene schönen Geschichten vorzulesen, die man dann ein Leben lang nie wirklich vergisst, da beginnt die christliche Prägung der Gesellschaft von morgen. Entscheidend ist aber nicht nur die "religiöse Erziehung" im engeren Sinne, die Belehrung. Wichtig ist auch die unmittelbare Erfahrung, das Verhalten der Eltern. Ob Kinder an Gott zu glauben lernen als an den Vater, der uns bedingungslos liebt, der verzeiht, wenn wir Fehler machen ­ das hängt auch davon ab, wie sie die eigene Mutter und den eigenen Vater erleben. Erleben sie deren "Allmacht" als bedrohlich oder liebevoll beschützend?

Manche Eltern sind überrascht, wenn ihre Kinder sie mit religiösen Fragen konfrontieren. Ihnen selbst ist das Beten vielleicht fremd geworden. Das Kind aber hat es bei Freunden oder im Kindergarten erlebt, will es nun auch zu Hause tun. Oder es kommen hintergründige Fragen wie diese: Wo sind denn nun die verstorbenen Großeltern, der tödlich verunglückte Mitschüler? Solche Fragen fordern uns in unserem eigenen Glauben heraus. Sagen wir den Kindern Tröstendes, an das wir selbst nicht mehr glauben können?

Glauben ist ein gemeinsamer Weg. Lassen wir ­ zumindest die größeren ­ Kinder an unseren Zweifeln teilhaben? Lassen wir uns anstecken von ihrem Vertrauen? Von ihnen zeigen: Beten ist nicht Weltflucht, sondern Zuwendung zur Welt, zum kranken Geschwisterchen, zum verletzten Schulfreund? Indem wir staunen, wie freimütig sie Gott alles sagen, Freude und Dankbarkeit, Trauer und Ärger, und wie sie in Gesten und Bewegungen dies alles bekräftigen. Können wir Erwachsenen so "naiv" beten? Ich denke an mein erstes Telefonat mit unserem ersten Kind. Ich verstand nicht viel, war aber ganz begeistert von seinem Versuch, mir etwas mitzuteilen. Könnte es Gott ähnlich ergehen wie uns Eltern: Er freut sich schon über den Versuch, ihn zu erreichen? Zum Glauben gehören die offenen Fragen, über die Nicholas Sparks im Roman "Wie ein einziger Tag" den Noah sagen lässt: "Ich habe immer an Gott geglaubt, an Gott und an die Macht des Gebetes, obwohl mein Glaube, wenn ich ehrlich bin, eine Reihe von Fragen hat aufkommen lassen, die ich gerne beantwortet hätte, wenn ich einmal gegangen bin." hermann Gröhe