In einer Silvesternacht schoss der Werkzeugmacher Walter Schauer auf seine Frau Klara. Aus Eifersucht. Obwohl sie seither im Rollstuhl sitzt, hat sie ihm verziehen
Elisabeth HussendörferPrivat
07.10.2010

Still ist es im Wohnzimmer des Ehepaars Schauer. Nur Atemgeräusche sind gelegentlich zu hören. Walter Schauer, 53, steht hinter Klara Schauer, 51. Er umgreift ihre Schultern, dehnt die Arme zentimeterweise nach hinten, das tut den verkürzten Sehnen gut. Klara Schauers Gesichtszüge entspannen sich. Wie weggezaubert ist die zusammengekauerte Haltung von eben. Kleine Pause zwischen den Dehnungsübungen. Und eine eher beiläufige Konversation. Über den letzten Urlaub, wohin man als Nächstes fahren könnte. "Wie früher, in die Berge?" Auf einmal wird Walter Schauers Stimme leise. Nachdem er seine Frau durch den Schuss in den Rollstuhl gebracht hat, ist er zwar immer mal wieder mit ihr in der Seilbahn auf einen Gipfel gefahren. "Aber es ist nicht das Gleiche." "Nein, ist es nicht", sagt sie. Sie sagt das ohne vorwurfsvollen Unterton. Trotzdem senkt er den Kopf. Sie nimmt seine Hand. Er sieht klein aus neben ihr, die doch sitzend viel kleiner ist. Sie sei so stark, seine Frau, sagt er.

Wenn er dem Fremden die Pistole nicht abgekauft hätte . . .

Manchmal fragen sie sich, ob sie das Unheil nicht hätten verhindern können. Wenn er vor vielen Jahren, als junger Mann, in der Kneipe dem Fremden die Pistole nicht abgekauft hätte . . . Vielleicht wäre es nie so weit gekommen. Er wollte vor seinen Motorrad-Kumpels verwegen wirken, dachte an Einbrecher oder ein tollwütiges Tier im Garten ­ schon damals lebten Walter und Klara Schauer auf der Anhöhe in der bayrischen Einsamkeit. Und sie, wenn sie tatsächlich, wie versprochen, die Affäre beendet hätte... Vielleicht wäre es nicht so weit gekommen. Hätte, wäre, würde . . . "Die meiste Zeit lassen wir das", sagt Klara Schauer. Walter Schauer nimmt die Hand seiner Frau. Als hätte es nie etwas anderes gegeben als diese Innigkeit. Doch was in der Silvesternacht zum Jahr 1991 passiert ist, lässt sich nicht ausblenden. Denn dann müsste sie ja auch den Rollstuhl ausblenden, sagt Klara Schauer.

Der Anfang vom Ende kam schleichend. Fünfzehn Jahre waren der damals 37-jährige Walter und die 36-jährige Klara Schauer im Sommer 1990 ein Paar. Der Werkzeugmacher und die kaufmännische Angestellte, die sich bei einem Faschingsball kennen gelernt hatten. In "seine lieben, ehrlichen Augen" hatte sie sich verliebt, er in ihre lebhafte Art. Die Bildergalerie im Wohnzimmer erzählt den Fortgang der Geschichte: Hochzeit, Hausbau, eine Tochter, ein Sohn. Äußerlich betrachtet, hatte Klara Schauer, was sie sich immer gewünscht hatte: Kinder, einen Mann, Familienleben. Innerlich jedoch befriedigte sie dieses Leben immer weniger. Die ewig gleichen Tage mit Kochen, Aufräumen, Hausaufgaben-Betreuen. Die fehlende Anerkennung des Mannes für das, was sie da leistete. "Er war entweder müde und wollte sich ausruhen. Oder traf sich mit seinen Motorradkumpels", sagt sie. Manchmal gab in dieser Situation ein Wort das andere. Dann konnte es passieren, dass er hochging wie ein HB-Männchen. Dass sie dichtmachte und zwei Tage lang nichts sprach. "Früher", sagt sie, "war ich diejenige von uns, die nicht verzeihen konnte."

Hast du eigentlich nicht gemerkt, wie unglücklich ich war?

Sie schaut ihn fragend an. "Hast du eigentlich nicht gemerkt, wie unglücklich ich war? Wie ungeliebt ich mich gefühlt habe?" Er sagt, was Männer oft sagen in so einer Situation: "Du hattest doch alles. Unser Leben lief gut." Nicht aus Eigennutz habe er schließlich so viel gearbeitet. Oft die halbe Nacht im Akkord Maschinenteile aufeinander gestapelt. "Ich habe das für uns getan. Ich war überzeugt, dass du das genauso siehst." Klara Schauer macht eine beschwichtigende Handbewegung. Sie wolle ja auch gar nicht so tun, als gäbe es eine Entschuldigung für das, was sie getan habe. Wobei es natürlich nicht vorsätzlich passiert sei. Doch schon seit längerem habe sie auf Männer anders reagiert. "In der Stadt, beim Einkaufen, gab es plötzlich diese Blicke. Das Sich-Umdrehen und Sich-Gutfühlen, wenn der andere es auch tat." Darf man das als verheiratete Frau? "Flirten", meinte eine Freundin, "ist Ausdruck von Lebensfreude." Genau wie tanzen. Wie lange hatte Klara Schauer nicht mehr getanzt? Und eines Abends fuhr sie einfach in ein Tanzlokal, sollten ihre Lieben eben mal allein zu Abend essen. Es wurden Lieder gespielt, die sie aus ihrer Jugend kannte. "Ich bin Heinz. Unterwegs als Vertreter", kam der Fremde auf sie zu. Sie musterte ihn. Anzug, Aktentasche, Allerweltslächeln. Aber darum ging es nicht. Es ging um Aufmerksamkeit.

Dabei war der andere weder der bessere Liebhaber noch der interessantere Mann. "Er war einfach nur da. Das war der Unterschied." In den kommenden Monaten sei sie richtiggehend aufgelebt, erzählt sie. Und er sagt: "Ich war blind." Nie wäre er auf die Idee gekommen, seine Frau könne ihn betrügen. Bis zu diesem anonymen Anruf. "Deine Frau hat einen anderen", sagte eine weibliche Stimme. Da sei es zum ersten Mal passiert: Dass er keine Luft mehr bekam. Dass das Herz wehtat. Als seine Frau nach Hause kam, stellte er sie zur Rede. "Wir redeten lange", sagt er, "danach dachte ich: Jetzt wird alles besser." "Ein einziges Gespräch kann nicht gutmachen, was seit Jahren kaputt ist", sagt Klara Schauer.

"Ein einziges Gespräch kann nicht gutmachen, was seit Jahren kaputt ist"

"Aus irgendeinem Drang heraus" habe sie sich weiter verabredet. Dann, an einem Nachmittag im Herbst, kommt sie mit dem Auto nach Hause. Ihr Mann eilt wortlos an ihr vorbei nach draußen. Zu ihrem Auto. Kommt zurück, mit leerem Blick: "Du hast gesagt, du würdest zum Turnen fahren." Er hat den Kilometerzähler überprüft. "Du bist fast 50 Kilometer gefahren." Leugnen zwecklos. Wieder hat Walter Schauer diese Enge ihm Brustkorb ­ wie im Sommer. Ein Druck, als würde einem das Herz aus dem Leib gerissen. Lieber sterben, als das aushalten müssen, habe er gedacht, sich die Pistole an den Kopf gehalten und den Abzug gezogen. Es macht "klick" ­ ein technischer Defekt, die Kugel hat sich nicht aus dem Magazin gelöst.

Erst da beendete Klara Schauer die Affäre. "Das passt einfach nicht zusammen: erkennen, wie schlimm es um die eigene Ehe steht, und gleichzeitig mit der Leichtigkeit eines Teenagers durchs Leben gehen." Sie musste ihre Gedanken und Gefühle ordnen. Bei der Mutter kam sie unter. Wochen, in denen sie litt wie ein Tier. Ohne die Kinder, die zwölfjährige Tochter, den neunjährigen Sohn. Wie kam sie dazu, ihr persönliches Glück über das der Familie zu stellen? Als sie nach Hause kam, hatte sie sich vorgenommen, noch mal anzufangen. "Aber da war immer noch so viel Sprachlosigkeit zwischen uns. Und nach außen hin bemühte sich Walter, die Fassade vom perfekten Paar zu wahren."

Was dann passierte, daran kann er sich nicht erinnern.

Wie an diesem Silvesterabend. Seine Cousine war zu Besuch gekommen. "Da saßen wir", sagt Klara Schauer, "taten vertraut und waren uns fremd." Klara Schauer war froh, als sie endlich im Bett lag. Gegen fünf Uhr morgens wurde Walter Schauer wach. "Da redete wer", sagt er heute. "Das hast du dir eingebildet", sagt sie heute. Er griff neben sich, fand die andere Seite des Bettes leer. "Ich wollte mir was zu trinken holen", erklärt sie heute. "Ich reagierte über", sagt er heute. Für den Fall der Fälle hatte er sich die Waffe unters Bett gelegt ­ um sich selbst zu erlösen. "In meiner Fantasie", erklärt er, "sah ich sie im Wohnzimmer heimlich telefonieren." Schon spürte er wieder die Enge in seinem Brustkorb. Wollte nach der Waffe greifen. Da hörte er seine Frau zurück ins Schlafzimmer kommen. "Ich bin kein Schläger", sagt Walter Schauer. An jenem Tag aber schlug er mit aller Kraft zu. Seine Frau schaffte es, sich aus seiner Umklammerung zu lösen. Was dann passierte, daran kann er sich nicht erinnern. "Bis ich diesen Knall hörte."

Auch Klara Schauer hörte den Knall. In dem Moment, als sie den Boden unter den Füßen verlor. Merkwürdig. Da lag sie im Türrahmen und versuchte, wieder aufzustehen. Es ging nicht. Sie fühlte etwas Warmes aus ihrem Rücken heraussickern. Spürte, wie sie schwächer wurde. Im Schein des Flurlichts sah sie die Blutlache und wie sie sich ausbreitete. Dann sah sie ihren Mann, wie er verwirrt den Gang auf und ab lief. Da habe er ihr so unendlich leidgetan. Da habe sie eine solche Liebe für ihn empfunden. Eine Liebe, die zustande komme, wenn man es schaffe, wirklich zu vergeben. Die eigene Schuld. Wie auch den Schuldigern. "In diesem Moment", sagt Klara Schauer, "war Gott bei mir." "Ich verzeihe dir", habe sie gesagt. Und ihn gebeten, Hilfe zu holen.

Ist ja klar, haben die Leute später gemeint. Die war hilflos. Die wusste, dass sie sterben würde, wenn er nichts unternahm. Mit echtem Verzeihen habe das nichts zu tun. Eher mit Ausgeliefertsein. Und mangelndem Selbstwertgefühl. Überhaupt, was hätte sie für Zukunftsaussichten gehabt ohne ihn? Ohne Haus, ohne Geld, im Rollstuhl? Zweckoptimismus haben manche die versöhnliche Haltung der Klara Schauer genannt. Und hinter vorgehaltener Hand gezischelt: Selbst schuld! Viele hatten dieses Raster im Kopf: Sie das Flittchen, er der Gehörnte. Vor allem am Anfang signalisierten Männer ihm augenzwinkernd Verständnis. Motto: Ich an deiner Stelle hätte genauso reagiert. Klara Schauer bekam anderes zu hören. "Jagen Sie den Kerl zum Teufel!", meinten die Schwestern im Krankenhaus. "Freunde versprachen zu helfen, wenn ich und die Kinder ausziehen würden", erinnert sie sich. "Dass wir als Familie weitermachen, stand für kaum jemanden zur Debatte." Sie mussten sich frei machen von dem, was andere dachten. Zum Beispiel, dass sie doch jetzt quitt seien. "Als könne man einen Seitensprung mit dem vergleichen, was ich meiner Frau angetan habe!" Walter Schauer schüttelt den Kopf. "Wenn wir so denken würden", sagt Klara Schauer, "wären wir heute kein Paar mehr."

Hätte, wäre, würde...

Hätte, wäre, würde... Hätte seine Frau ihm nicht verziehen, er wäre vermutlich weiter auf dem Irrweg geblieben. So aber, weil sie ihm verzieh, weil, so sieht er das, Gott durch sie gesprochen habe, habe er auf einmal völlig klar gesehen. Er hat die 110 gewählt: "Ich habe auf meine Frau geschossen. Kommen Sie schnell!" Die Kinder? "Die wurden geweckt, als die Polizisten und der Krankenwagen weg waren." Zu seinen Eltern seien sie gekommen.

Klara Schauer räuspert sich. Sie tut das oft, weil ihre Lunge vernarbt ist. Sie schiebt den Kragen ihrer Bluse zur Seite, deutet auf die zentimeterlange Narbe unterhalb des linken Schlüsselbeins. Die Stelle, an der die Kugel in den Körper drang, knapp am Herzen vorbeiging, die Lunge streifte und schließlich den vierten und fünften Brustwirbel durchdrang. Erst im Krankenwagen wurde sie ohnmächtig. Als sie nach der OP aufwachte, hatte sie Schmerzen, die ihr das Denken unmöglich machten. Zu diesem Zeitpunkt lag er in einem gekachelten Raum auf einer Pritsche, zitternd, sich an einer Wolldecke festklammernd. "Bin ich ein Mörder?" Er bat den Vollzugsbeamten um eine Bibel. Schlug spontan die Stelle mit der Bekehrung vom Saulus zum Paulus auf. Sogleich habe er erkannt: "Der Saulus ­ das bin ja ich. Auch für mich gab es also eine Chance. Wenn ich mich Jesus zuwende." Nie werde er vergessen, wie nach vierzehn Tagen die Tür der Gefängniszelle geöffnet wurde und zwei Polizisten vor ihm standen: "Deine Frau ist gelähmt", sagten sie. Und: "Sie will dich sehen."

Klara Schauer hat Tränen in den Augen, als sie das erste Wiedersehen beschreibt. Wie sie geschwächt im Krankenbett lag und sich doch so stark fühlte. Wie sie ihm, der als gebrochener Mann von den Beamten durch die Tür geschoben wurde, von dieser Stärke abgeben konnte. Wie er stammelnd um Verzeihung bitten wollte. Und sie nur sagte: "Ist schon gut." Während dieser ersten Begegnung sei es auch zu der Absprache gekommen, erzählt sie: "Wir werfen einander nichts mehr vor. Weder den Ehebruch noch den Schuss. Nur so hat unsere Beziehung eine Chance."

Die Haltung seiner Frau habe ihn überwältigt, sagt Walter Schauer. Ihm Kraft geschenkt. Für die Gespräche mit dem Amtsrichter, dem Anwalt und dem Psychologen. Der schrieb ein positives Gutachten, die Grundlage für seine Freilassung nach sechs Wochen. Der Hausarzt half, der Chef, der Schwager, die Freunde, die wie selbstverständlich mitmachten beim behindertengerechten Umbau des Hauses. Wie ein Kind habe sie sich gefreut, als sie nach fünf Monaten Reha wieder heim durfte, sagt Klara Schauer. Als sei nichts gewesen, habe sie sich in der ersten Zeit im Haushalt bewegt. Weil sie immer noch glaubte, sie würde irgendwann wieder laufen können. Doch von Tag zu Tag wurde ihr die eigene Eingeschränktheit mehr bewusst. Durch die Höhe der Regalbretter in der Küche. Durch die Unmöglichkeit, unter die Eckbank zu greifen, wenn etwas hinuntergefallen war. Viel geweint habe seine Frau in der ersten Zeit, sagt Walter Schauer.

"Heute bin ich gläubig."

Trotzdem sei er nie gefallen, der Satz, vor dem er sich so gefürchtet hat: Dass sie nämlich seinetwegen so schlimm dran sei. Natürlich, die körperlichen Handikaps sind nicht zu verdrängen. Klara Schauer kann nicht stehen, nicht laufen. Dann kamen die Rückenschmerzen vom vielen Sitzen. Und die häufigen Blasenentzündungen durch den Katheter. Ohne ihren Glauben würde sie mit all dem wohl nicht so zurechtkommen, sagt Klara Schauer. Früher sei sie zwar irgendwie religiös gewesen. "Heute bin ich gläubig." Gott habe gemacht, dass ihre Beziehung an Tiefe gewonnen habe, sagt er. Sie verbringen viel Zeit miteinander. Mit Reisen. In der Gemeinde, einer evangelischen Freikirche.

Wenn eine Spannung da sei, löse sie sich durch ein gemeinsames Gebet. Wie damals, vor der Gerichtsverhandlung, als der Hergang der Tat noch einmal aufgerollt wurde. "Jeden Tag saßen wir zusammen und haben zu Gott gesprochen", sagt Klara Schauer. "Sei gnädig, baten wir ihn." Walter Schauer wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Nicht wegen versuchten Totschlags, sondern wegen schwerer Körperverletzung. Tonnenschwerer Ballast fiel von ihr ab: Als hätte auch das Gericht ihm verziehen.

"Wir werfen einander nichts mehr vor"

Der Schuss hat ihr Leben verändert. Aber: "Wir werfen einander nichts mehr vor", sagt Klara Schauer. "Nur so hatte unsere Beziehung eine Chance"

Die Fotos im Wohnzimmer erzählen die Geschichte einer Ehe. Hochzeit, junges Glück, eine Tochter, ein Sohn. Die Freunde und die Eltern. Von Entfremdung, Spannungen, Eifersucht berichten Wohnzimmerfotos nie. Klara und Walter Schauer haben lange gebraucht, um darüber reden zu können