In einer sternklaren Nacht kamen Yasmin und Bara auf die Welt, zwei Monate zu früh. Die Mädchen sind Beduinenkinder, und ihre Herberge war die Kinderklinik in der Geburtsstadt Jesu
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Sunseadreaming steht auf Ahmeds blau-weiß-schwarzem T-Shirt: "sonnenmeerträumend". Seit mehr als einer Stunde kauert er am Krankenhauseingang. Manchmal, wenn eine Mutter die Lichtschranke der automatischen Schiebetür passiert, surrt die Tür zum Caritas Baby Hospital, Bethlehem, leise auf und zu. Ahmed ist 25, Beduine, Palästinenser, Muslim. Er will seine Frau und seine vier Monate alten Zwillingstöchter abholen. Aber solange die Mütter im Krankenzimmer noch stillen, muss er hier draußen warten.

Eine Krankenschwester ruft Ahmed herein. Säuglingsstation eins, Zimmer 30, gelbe Wände, bunte Babyposter. Neugeborene schreien, ein Apparat piept rhythmisch. Vier Gitterbettchen stehen im Zimmer von Ahmeds Frau Najah. Waschbecken, Steriliumspender, furnierte Hochschränke. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Najah,19, ist eine zierliche Frau mit ebenmäßigen Gesichtszügen. Sie trägt ein schwarzes Kopftuch und ein Sweatshirt mit dem Aufdruck "Romance". In ihrem Arm wiegt sie Yasmin.

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt.

Wie Fremde wirken Ahmed und Najah in dieser Umgebung. Behutsam bewegen sie sich, als hätten sie Angst, das Furnier der Schränke zu beschädigen, Kratzer im PVC-Boden zu hinterlassen, ein Rollgestell mit Tropf umzustoßen.

Das Caritas Baby Hospital ist ein Haus der Kinderhilfe in Bethlehem, einer heute von der acht Meter hohen israelischen Grenzmauer abgeriegelten Stadt. Vor 54 Jahren hatte Pater Ernst Schnydrig (1912­-1978) die Säuglingsklinik gegründet. Damals waren drei Viertel der Bürger Bethlehems Christen ­ heute ist es nur noch ein Drittel. Schnydrig hatte am Heiligen Abend beobachtet, wie ein palästinensischer Vater in einem Flüchtlingslager sein totes Kind im Morast begrub. "Nie wieder", schwor er sich, "soll ein Kind in der Geburtsstadt Jesu so elend zugrunde gehen." Heute ist sein Hospital eines der bestausgestatteten Krankenhäuser in Palästina. Es wird überwiegend mit Spenden aus Deutschland und der Schweiz finanziert, gut fünf Millionen Euro im Jahr, etwa ein Zehntel der Kosten tragen die Patienten mit ihren Beiträgen.

Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger.

Ahmeds und Najahs Dorf südöstlich von Bethlehem heißt wie ihr Beduinenstamm: Rashayde. Dort bewohnen sie einen kleinen Zementquader, sechs Meter breit, drei Meter tief, zweieinhalb Meter hoch, Kochnische, Kleiderschrank und Schaumstoffmatrazen auf dem Fußboden. An der Wand Koranverse und Fotos: Ahmed vor einer Fotowand mit Tulpen; Najah im Hochzeitskleid, sie lehnt den Kopf an seine Schulter. Unter der Decke ein Stromzähler, der noch nie in Betrieb war, eine Neonröhre, die noch nie gebrannt hat - ­ der Generator im Dorf ist nicht angeschlossen. An der Außenwand steht in großen arabischen Lettern "Mabruk", Glückwunsch. Das haben Ahmeds Brüder zur Hochzeit geschrieben.

Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

Vier Monate ist es her, dass Najah um zwei Uhr nachts Wehen bekam ­ in der 31. Schwangerschaftswoche, die Fruchtblase war geplatzt. Ahmed rennt aus dem Haus. Es ist finster, nur die Sterne geben Licht. Ahmed läuft den Berg hinab, zu seinem Nachbarn, der erklärt sich bereit, Ahmed und Najah bis Tekoa zu fahren. Nur bis Tekoa. Dort gibt es Sammeltaxis nach Bethlehem.

Najah sitzt auf der Rückbank und wimmert. Im Lichtkegel des Autoscheinwerfers taucht die Moschee vom früheren Rashayde-Dorf auf, das Palästinenser aus Sair zerstörten ­ wegen ungeklärter Landrechte. Damals war Ahmed ein Kind. Von den Hütten und Ställen sind nur Trümmer geblieben. Etwas weiter flutet Halogenlicht die Straße, Sicherheitsbeleuchtung einer israelischen Siedlung. Dahinter tasten die Scheinwerfer die Dunkelheit ab.

Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.

Der Straßenabschnitt, auf dem die Israelis sonst mobile Straßensperren errichten, ist frei. Der Wagen rollt durch Tekoa. Dort sammeln sich arabische Arbeiter, die in Bethlehem über die Grenze nach Israel wollen, Tagelöhner für ein paar Schekel. Ahmed schiebt Najah zu den Arbeitern ins Sammeltaxi und steigt dazu. Wieder fahren sie durch die Nacht. Durch eine Gegend voll biblischer Erinnerung, wenn auch nicht für Ahmed und Najah, sie sind Muslime. Von hier stammt der Prophet Micha, der gesagt hat: "Bethlehem, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei."

Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.

In einer Kolonne von Sammeltaxis ächzt der Wagen die steile Straße nach Bethlehem hinauf. Vorbei an den Hirtenfeldern der ersten Weihnacht. Vorbei an der Geburtskirche, dem Geburtsort Jesu. Die Straßenlaternen werfen ihr gelbes Licht auf die Schlaglöcher. An der Grenzmauer drängen Hunderte palästinensischer Arbeiter durch die enge Sicherheitsschleuse nach Israel. Der Taxifahrer lässt die Arbeiter raus und bringt Ahmed und Najah zum Französischen Hospital. Es hat eine Geburtsstation. Najah kommt in die Notaufnahme. Ahmed bleibt draußen.

Najah hat starke Wehen, klagt über Schmerzen. Zwillinge! Ein Kind in Steißlage blockiert den Geburtskanal. "Kaiserschnitt" entscheidet der Arzt um sechs Uhr früh. Bara wiegt 1276 Gramm, Yasmin 1381. Die Lungen der Kinder sind unterentwickelt. Sie werden im Inkubator an ein Sauerstoffgerät angeschlossen.

Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.

Am Morgen des nächsten Tages erwacht Najah aus der Narkose. Ahmed ist fort: Arbeit suchen in Israel. Sie geht zum Inkubator. Zwei verschrumpelte, bläuliche Wesen liegen da an den Schläuchen. Najah erschrickt. Sie hat Angst, die Kinder zu berühren. Sie will sie nicht haben. "Postnatale Depression" heißt die Diagnose. Najah bleibt fünf Tage in der Klinik. Sie lernt, Milch abzupumpen. Dann wird sie entlassen, es sind nicht genügend freie Betten da.

Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Die Kinder bleiben zunächst auf der Frühchenstation, später bringt ein Krankenwagen sie in die Caritas-Säuglingsklinik zur Nachsorge. Die Kinder leiden an Blutmangel, und das wenige Blut, das sie haben, ist infiziert. Najah ist gereizt. Sie schreit die Pflegerinnen an, will nichts essen, fällt plötzlich in heftiges Schluchzen. Erst lehnt sie beide Kinder ab. Irgendwann entdeckt sie ihre Liebe zu Yasmin, nicht zu Bara. "Später werde ich Yasmin die Zöpfe flechten", sagt Najah den Schwestern, "Bara soll dann den Haushalt machen." Yasmin heißt auf Deutsch Blume.

Najah sagt keinem, warum Ahmed sie nicht besucht. Warum sie von plötzlichen Heulkrämpfen geschüttelt wird. Eine Frau tritt jeden Tag an ihr Bett und fragt: "Wie geht es?" Einfach so. Najah erfährt, dass sie die Sozialarbeiterin Lina Rahil ist.

Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.

"Wo ist dein Mann?", fragt Lina schließlich. Da muss Najah es erzählen. Ahmed braucht Geld, er muss ja jetzt die Familie versorgen. Er steigt illegal durch eine Lücke im Grenzzaun. Auf der Baustelle in Israel sprechen ihn Ermittler an. 15 Tage sitzt er im Gefängnis, die israelischen Behörden verlangen 2500 Schekel für die Freilassung. Ahmeds Brüder leihen das Geld im Dorf, umgerechnet 465 Euro. Für einen Israeli ein ärgerliches Strafgeld, mehr nicht. Aber Ahmed hat nun ein lebenslanges Einreiseverbot nach Israel. Keiner weiß, wie er das Geld jemals zurückzahlen soll.

Nun sitzt Najah in der Nachsorgeklinik auf Stationszimmer I/30 und wiegt Yasmin in ihrem Arm. Bara schläft im Gitterbettchen. Im Bettchen gegenüber liegt ein fremdes Baby. Unter seinem Handgelenk sticht eine Braunüle in die dunkle Haut. "Herzfehler", steht in der Krankenakte am Kopfende des Bettes. "Die Eltern wollen das Mädchen nicht haben", sagt die Schwester: "Viele arme Familien können sich ein chronisch krankes Kind nicht leisten. Sie sagen sich, dass es bei uns in guten Händen sei. Es ist schwer, sie davon zu überzeugen, das Kind anzunehmen."

Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.

Ahmed hat das Krankenzimmer betreten. Er hüllt seine Tochter Bara in ein blaues Wolltuch und reicht seiner Frau ein rosa Wolltuch für Yasmin. Najah schaut ihrem Mann schweigend in die Augen. Najah hat sich längst mit Lina ausgesprochen, wenigstens über das Problem mit ihrem Mann. Jetzt betritt die Sozialarbeiterin das Stationszimmer. Heute werden die Zwillinge aus der Klinik entlassen. Schon nach vier Monaten wiegen sie doppelt so viel wie bei der Geburt. Najah hat in der Mütterschule gelernt, dass sie Wasser abkochen, die Hände sauber halten und keinen Kaffee auf offene Wunden tun soll ­ - ein Hausmittel der Beduinen.

Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten.

Lina will sichergehen, dass Najah alles richtig macht. "Spezialmilch", sagt sie. "Geh sorgsam damit um. Das ist ein sehr gutes Produkt, aus Israel. 450 Milliliter pro Flasche, die Flasche kostet 35 Schekel", 6,50 Euro. "Ich gebe sie dir umsonst." Lina legt sechs Plastikflaschen auf Najahs Tasche, dazu eine Packung Medikamente. "Gib den Kindern jeden Tag eine Tablette", sagt sie. Najah nickt. "Bei den Kindern bildet sich sonst Pilz im Mund. Das passiert nicht, wenn du ihnen täglich eine Tablette gibst, hörst du?" Najah nickt wieder. Schweigen.

Lina: Najah, du hattest anfangs nicht beide Kinder gleich lieb.

Najah: Ich habe es dir nie erzählt!

Lina: Die Schwestern haben es mir gesagt.

Najah: Ich muss mich um Yasmin mehr kümmern, sie schreit viel. Bara ist die Ruhigere. Die braucht mich nicht so.

Lina: Am Anfang war das anders.

Najah: Ja, ich habe Yasmin ein wenig mehr lieb gehabt. Aber jetzt liebe ich beide gleich!

Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie zu ihnen gesagt war.

Ahmed hält Najahs Tasche in der einen und seine Tocher Bara in der anderen Hand. Bara heißt Freigesprochene. "Komm", sagt er. Vorm Haupteingang wartet der Kleinbus vom Krankenhaus, der Ahmed, Najah, Yasmin und Bara heimbringt. Vom Fenster aus beobachtet die Chefärztin die Familie. "Die Zwillinge kommen wieder, mit Durchfall und Erbrechen", sagt sie. "Das habe ich im Gefühl. Sie leben in schlechten hygienischen Verhältnissen."

Bei der Geburtskirche holpert der Wagen über eine Welle auf der Straße. Das Kreuz, das der Fahrer mit einer Holzperlenkette am Rückspiegel befestigt hat, baumelt hin und her. Najah hält die schlafende Yasmin im Arm und strahlt. Bara reißt ihren Mund weit auf. Sie gähnt. Ahmed drückt sein Gesicht auf Baras Bauch, ganz fest.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.