Friederike Seifert, Schülerin, 16 Jahre
Beten nenne ich das nicht, ich nenne das erzählen. Kurz vorm Einschlafen lass ich noch mal meine Gedanken schweifen. Ich lasse jemanden teilhaben an meinem Leben. Es ist ähnlich wie Tagebuchschreiben. Aber da ist jemand, dem ich es erzähle, also Gott. Ich erzähl es ihm wie einer anderen Person.
Dieses Erzählen kenne ich erst seit meinem 14. Lebensjahr, seit ich mehr über mich nachdenke. Vorher hab ich nicht gebetet. Eine Freundin hat mir davon erzählt. Erst kam es mir exotisch vor, dann hat es mich angeregt, das selber einfach mal auszuprobieren.
Beten nenne ich das nicht, ich nenne das erzählen
Oft werde ich als Zuhörerin angefragt und soll einen Rat geben. Da muss ich dann aber auch Kritik einstecken. Es kommt vor, dass mir die Schuld gegeben wird, wenn etwas schief läuft. Dann hilft mir das Gebet.
Durch das Erzählen lässt das Aufbrausende in mir nach. Ich beruhige mich, frage mich, ob der andere vielleicht doch Recht hat. Ich kann den Konflikt besser einordnen. Es führt dazu, dass ich mit mir klarkomme. Ich hab einfach jemanden, der zuhört.
Ich erzähle auch schöne Sachen. Zum Beispiel wenn ich in einem Fach besser bin als meine Freundin, in dem eigentlich sie der Freak ist. Das brauch ich besonders, wenn ich total niedergeschlagen bin. Dann kommen mir Bilder von tollen Momenten, die mich wieder aufbauen. Woher sie kommen, das weiß ich nicht. Es könnten Bilder von Gott sein, die mir Lebensmut geben sollen.
Das Beten ist eine Lebenseinstellung von mir. Viele orientieren sich nur daran, was gerade in oder out ist. Ich schwimme gerne gegen den Strom. Das hat mich wohl zum Beten gebracht. Es ist etwas, womit man sich nicht lange theoretisch auseinander setzt, sondern was man einfach macht. Es ist einfach da. á
Nitya Grosser, Schülerin, 10 Jahre
Eigentlich habe ich schon immer gebetet. Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich schon im Bauch von ihr und von meinem Vater die Mantren gehört habe. Abends und morgens sitzen wir alle und auch mein kleiner Bruder Narada (2 Jahre) am Altar und singen und hören etwas über Gott.
Die Mantren sind in der Sprache des Sanskrit verfasst, das ist eine der ältesten Sprachen der Welt. Und sie kommt direkt von Gott. Die ist nicht von Menschen erfunden worden. Man muss nicht jedes Wort verstehen. Man kann fühlen, was es heißt. An den Tönen, an den Schwingungen. Man überlegt sich, welches Mantra einem am meisten Kraft gibt. Dann wird man von einem Swami oder Mönch in das Mantra eingeweiht. Mein Mantra heißt: Om Sri Durgaye Namaha. Wenn man in der S-Bahn sitzt und es einem nicht so gut geht, dann kann man es beten und man fühlt sich sogleich kraftvoller.
Ich bete gerne.
Ich bete gerne. Manchmal vor dem Einschlafen. Dann kann ich ganz schnell einschlafen. Manchmal schreibe ich zu Hause am Schreibtisch mein Mantra auf ein Blatt Papier.
Ja, ich trage ein Kreuz. Wir sind auch Christen. Wir gehen jeden Monat zwei Mal in die Johanniskirche.
Auf dem Altar von meinem kleinen Bruder und mir sind nicht nur unser Meister Swami Sivananda und die Götter, sondern auch Jesus am Kreuz. Und eine Ikone mit der Maria und dem Jesukindlein. Manchmal bete ich zu Hause die Mantren und danach "Der gute Hirte". Jedes hat für mich eine andere Wirkung. Bei den Mantren denk ich an die Götter, beim Gebet daran, dass Jesus wiederauferstanden ist. Die Götter waren schon immer da und bleiben auch immer. Jesus ist Gegenwart, er ist immer da, er ist neben dir.
Wenn ich um etwas bitte, nehme ich das Gebet, bei dem ich gerade mit den Gedanken bin: Es kann ein Mantra sein oder ein Vaterunser. Es verwirrt mich nicht, es bringt mich nicht durcheinander. Für mich ist es so: Ich finde beides schön. Ich nehme das, wofür ich gerade die Kraft habe. Wenn man betet, ist man nie allein.
Gerhard Oosting, Bauer, 58 Jahre
Wir haben im Elternhaus immer gebetet, am Mittagstisch und abends vor dem Schlafengehen. Dann kam in der Jugend eine Phase, wo das nachließ. Was immer geblieben ist, sind die Tischgebete, meine Frau und ich wechseln uns darin heute ab. Unsere vier fast erwachsenen Kinder ziehen nicht alle mit. Aber da kann ich mich selber wiedererkennen. In der Phase war ich ja auch einmal. Man kann den Glauben keinem aufzwingen, man kann ihn nur vorleben.
Meine Beziehung zum Glauben hat sich durch eine Evangelisation von Billy Graham verändert. Ich habe mich dort zu Jesus Christus bekannt. Danach kam eine Zeit, in der ich besonders intensiv gebetet habe. Damals gab es Schwierigkeiten im Betrieb, und ich hatte noch keine Frau. Die Gebete haben mir darüber hinweggeholfen, und sie sind auch erhört worden. Später dann.
Eine entscheidende Phase für uns war, als unser Sohn Thorsten mit sieben Jahren einen Verkehrsunfall hatte. Er wollte mit dem Fahrrad die Straße überqueren und wurde von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Diese Zeit, als er im Krankenhaus war, später in der Rehabilitation und dann zu Hause, die hat unsere Familie zusammengeschweißt. Seitdem begleitet uns das Gebet immer. Das Gebet hat uns die Kraft gegeben, das alles durchzustehen, auch die Gespräche mit den Ärzten. Sie wollten Thorsten noch länger in der Rehabilitation behalten. Meine Frau und ich hatten aber das Empfinden, dass es ihn nicht mehr weiterbrachte. Wir als Familie konnten ihm besser helfen. Wenn wir unseren Sohn in dieser Zeit gesehen haben und heute, wo er eine Werkstatt für Behinderte besucht, dann können wir dankbar sein.
Ich habe in dem Moment versucht, es Gott abzugeben.
Ich habe wenig gehadert. Ich habe in dem Moment versucht, es Gott abzugeben. Sonst könnte ich es nicht tragen. Man hat ja auch noch den Betrieb und die anderen Kinder.
Auch als mein Vater sehr krank war und starb, ging es mir so. Da war keine Trauer. Wir wissen, dass wir ihn bis zur Pforte begleitet haben. Da ist er durchgegangen, und man weiß, er ist zu Hause. Es ist nicht so, als wenn er für ewig verschwunden wäre. Man gibt ihn ab und weiß, dass er geborgen ist.
Mir geht es so: Wenn ich hinten auf dem Land bin, bei der Arbeit, dann betet man einfach. Da suche ich mir nicht extra einen Fleck dafür aus, wenn mich ein Problem beschäftigt. Der Knoten muss sich doch irgendwie lösen.
Das Gebet ist immer das, womit man am meisten erreichen kann, in allen Dingen. Im Kirchenkreis haben wir eine schwierige Fusion mit einem anderen Kreis vollzogen. Daran war ich als Synodaler beteiligt. Wir beten dafür, dass nun nicht alles von oben bestimmt wird, sondern dass von der Gemeinde, von unten her, unsere Kraft kommt. Gott soll die Veränderung mittragen. Bei solchen Entscheidungen kann man Gott nicht außen vor lassen.
Obotan Awuku, Sprachforscher, 78 Jahre
Beten ist die Grundlage des Lebens, alles orientiert sich auf Gott hin. So bin ich in meiner Heimat Ghana aufgewachsen. Als ich vier Jahre alt war, wurde meine Mutter schwer krank. Zusammen mit meinem zweijährigen Bruder und mir machte sie sich vom Bahnhof aus zu Fuß auf den weiten Weg zu meinem Onkel, einem Medizinmann. Unterwegs fiel sie zu Boden und blieb ohnmächtig liegen. Ich stieg in den nahen Fluss, hob die Arme und flehte zu Gott: "Nana Nyankopon (Großvater Gott)! Lass meine Mutter nicht sterben." Da kamen vier Männer vorbei, die meine Mutter und uns Kinder trugen und zu meinem Onkel brachten. Seitdem erlebte ich viele solcher Wunder.
In der Schule wurde ich Christ, wie fast alle Menschen in Ghana. Ich wollte sogar Pastor werden, erteilte Unterricht in der Sonntagsschule. Aber der Pastor, der mich anfangs gefördert hatte, beutete mich aus und ich entfernte mich vom Christentum. Ich fand, dass das Christentum wenig mit Christus zu tun hat. Die Christen taten absolut nicht das, was Christus ihnen aufgetragen hat.
In unserer alten Religion ist Gott genau wie in der Bibel der Schöpfer des Himmels und der Erde. Gott verwirklicht sich in den Dingen. Das Leben selbst ist für uns eine Reflexion Gottes. Im christlichen Glauben hingegen ist Gott von der Welt getrennt.
Sie erwarten nicht, dass ihr Gebet erhört wird.
Ich kam nach Deutschland als ein schwer kranker Mann, ich hatte schwere Rücken-, Wirbelsäulen- und Herzprobleme. Freunde brachten mich hierher, damit ich Hilfe fände. Die Ärzte konnten mir kaum Hoffnung machen. Ich besuchte die Kirchen. Aber ich erlebte, dass die Christen darin ohne Überzeugung beteten. Sie erwarten nicht, dass ihr Gebet erhört wird.
In der Not besann ich mich auf das, was ich als Kind gelernt hatte, und fing an, im Glauben meiner Ahnen zu beten. Wenn ich um etwas bitte, geht es in Erfüllung. Nicht gleich. Aber ich erwarte, dass sich etwas verändert. Wir rufen das eine große Geistwesen an und die Erde, auch kosmische Kräfte und schließlich unsere Ahnen. Während des Gebetsrituals gießen wir Alkohol oder Wasser in die Erde. So treten wir mit Gott in Verbindung. Wir beten ständig, vor der Reise, vor dem Essen, am Morgen und am Abend. Dieses Gebet hat mich geheilt. á
Lennart Streibel, Student der Volkswirtschaft, 20 Jahre
Richtig beten, da bin ich lange nicht hingekommen. Das änderte sich während eines Jahres in Amerika in der 11. Klasse. Amerikaner binden das Beten in ihren Tagesablauf ein, vor dem Essen, vor jeder langen Autofahrt, in der Kirche. Man wird als Fremder schnell aufgenommen. Man sitzt im Kreis der Familie und merkt, dass man ein Teil dieser Gemeinschaft ist. Dort findet man ein großes Gottvertrauen, das Sicherheit gibt. Ich muss allerdings sagen: Beim Zurückkommen wurde dieses Zutrauen etwas relativiert. Wir sind hier skeptischer und nicht so zukunftsgewiss.
Im Moment ist es nicht so, dass ich mich abends hinsetze und bete. Ich bete in Momenten, in denen ich berührt oder aufgewühlt bin, wenn ich Traurigkeit oder Triumph fühle. Vielleicht bete ich am häufigsten aus Dankbarkeit, weil es in meinem Leben zurzeit so viele glückliche Momente gibt. Ich bete auch, wenn ein Mitglied meiner Familie krank ist. Als der Tsunami passiert ist, habe ich für die Opfer der Katastrophe gebetet ich kann mir nicht anders helfen in so einem Moment.
Die größte Erfahrung mit dem Beten habe ich in der Taizé-Gemeinschaft gemacht, wo am Anfang des Gottesdienstes zehn Minuten Stille herrscht. Zuerst hatte ich damit Schwierigkeiten, alleine weil man auf dem Fußboden sitzt und einem die Beine wehtun. Aber nach zwei Tagen suchte ich den Gottesdienst hauptsächlich wegen dieser Stille auf. Da kann man "sich selber greifen", eine innige Verbindung zu Gott aufbauen. Letztendlich definiere ich mich ja immer durch andere, durch deren Erwartungen und meine eigenen. Aber ich bin auch jemand in Bezug auf Gott. Es ist, als würde man sich selber aus einer anderen Ecke betrachten. Man wird ein bisschen distanzierter den Urteilen anderer gegenüber, weil man fühlt, dass das nicht alles ist. Ich bin unabhängiger geworden, beuge mich nicht ganz so schnell dem Gruppenzwang. Die totale Unabhängigkeit erreicht niemand, aber wenigstens ein Stückchen davon.
Ich bete nicht mit einer bestimmten Erwartung
Ich bete nicht mit einer bestimmten Erwartung. Das wäre vermessen. Ich bin ja nicht Gott. Aber ich bete mit Hoffnung. Ich versuche auch für Menschen anderswo zu beten. Was schwierig ist, weil man sie nicht kennt. Das Gebet stellt dir letztendlich eine Aufgabe. Du siehst, wo du etwas tun kannst. Wir als Gemeinde haben zum Beispiel zwölf Patenkinder in Peru.
Wir Protestanten hier hinterfragen alles, ganz anders als Christen in Amerika. Wir haben keine so klaren Orientierungen, in Fragen wie Abtreibung oder Todesstrafe. Du stehst allein vor deinem Gott. Dadurch entsteht eine Angst davor, Falsches zu glauben und zu tun. Man muss immer wieder neu die eigene Position suchen. Beim Beten ist es anders. Im Beten muss ich nicht die letzte Antwort haben. Da darf ich mich unter Gottes Schutz begeben und einfach mein Herz ausschütten.
Christina Rakebrandt, Diplomkauffrau,30 Jahre
Ich halte lange schon Zwiesprache mit einer inneren Kraft. Die früheste Situation, die mir einfällt, ist ganz banal: Kurz vor meinem Abschlussball in der Tanzschule wusste ich überhaupt nicht, was ich anziehen sollte. Und dann hatte ich auf einmal das Gefühl: "Bisher ist es immer gut gegangen, und es wird auch jetzt gut gehen, zerbrich dir nicht den Kopf." Ich hab dann noch was Schönes gefunden. Diese Art von Gottvertrauen hat mich auch durch Prüfungen und bei Reisen begleitet. Aber ich nenne es erst seit kurzem Gebet.
Es hat mich ganz natürlich zum Beten hingezogen. Ich bin nicht in diese Richtung erzogen worden. Aber ich hab mich immer nach dieser Möglichkeit gesehnt, Anbindung an eine Kraft zu finden, um Vertrauen ins Leben zu bewahren. Und das klappt am besten über das Beten.
Ich bete, um mich zu zentrieren, um Halt zu haben
Ich bete, um mich zu zentrieren, um Halt zu haben in einer Zeit, die von schnellem Wandel geprägt ist. Es gibt mir Stabilität. Es ist eine Art der Konzentration, mit mir alleine zu sein. Ich kann eine beruhigende Distanz finden gegenüber den Anforderungen, die ich von außen auf mich zuströmen sehe. Ich fühle mich sicher. Und ich habe im Gebet Kontakt zu meiner inneren Stimme. Das ist sehr wichtig für mich.
Am schönsten ist es, wenn ich in der Natur bete. Ich spreche dann die einzelnen Naturkräfte an. Aber es ist nicht so, dass ich mich niederknie und die Hände falte. Es ist mehr eine meditative, offene Haltung.
Ich hab immer bestimmte Worte, die mich eine Zeit lang begleiten. Vor ein paar Jahren hab ich ein indianisches Gebet in einem Buch gelesen. Und das hab ich für mich selber ausgedehnt. Einfach so, für mein Verständnis. Zum Beispiel: "Bruder Wind, durchpuste mich, nimm mit, was ich nicht mehr brauche!" Das hat für mich eine symbolische Bedeutung: mich nicht an Dingen oder Gedanken festklammern, die ihre Berechtigung hatten, jetzt aber nicht mehr gut für mich sind und belastend sein können. Ich bin durchs Beten viel gelassener geworden und habe wesentlich mehr Vertrauen. Und mehr Mut.