Bei mir ist sie gut losgegangen, die Weihnachtszeit. Der Adventskranz duftet und leuchtet. Die Plätzchen sind knusprig, die Stiefel geputzt. Was aber niemand hinterfragt, ist die weihnachtliche Massenmigration, die in den letzten Jahren immer größere Auswüchse annimmt: Immer mehr weihnachtliche Wichtel machen sich vermutlich von Norden aus auf den Weg, um in deutschen Haushalten illegal ihr Domizil zu beziehen.
Meine Nachbarin hat einen, diverse Kolleginnen und Freunde und ich bin noch immer auf der Pirsch durch meine Wohnung: Vielleicht tut sich doch noch eine Tür auf, nicht im Adventskalender, sondern eine kleine Wichteltür. Vielleicht über der Fußleiste im Eingangsbereich, vielleicht im schummrigen Eck neben dem Schreibtisch oder am Kaminschacht? Beginnt doch noch ein Wichtel bei mir, seine Weihnachtswerkstatt oder sein Unwesen zu betreiben?
Übrigens, ich habe keine Kinder. Erstaunlicherweise auch viele nicht, die sich bei einem der großen Discounter mit der Grundausstattung "Wichteltür, ca. 9 x 13 cm + Sack + Besen" eingedeckt haben. Menschen, die 341 Tage im Jahr rational und nüchtern handeln, betrachten in der Weihnachtszeit verträumt die kleine Wichteltür oder spielen sogar mit ihr, auch wenn es "nur" für schöne Instagram-Fotos sein mag.
Schon erstaunlich, dass wir uns ausgerechnet an Weihnachten derart der Fantasie hingeben, auch als Erwachsene Wunschzettel ans Christkind schreiben, Kindern überzeugend den Weihnachtshimmel vorgaukeln und neuerdings knorrigen nordischen Wichteln gestatten, unsere Wände auszuhöhlen, ja, in unseren Nischen ihre Stiefelchen zu putzen und sich an unseren Vorräten zu bedienen. Die Kulturwissenschaftlerin Anna Häckel-König forscht seit Jahren über die Weihnachtszeit. "Sie ist kollektiver Eskapismus", sagt sie, "eine gesellschaftlich akzeptierte Alltagsflucht."
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