Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie von dem Erdbeben im Südosten der Türkei erfahren haben?
Figen Çalıkuşu: Am Montagmorgen, dem 6. Februar, bin ich früh aufgewacht und habe gegen 5.30 Uhr begonnen, auf Social Media Nachrichten zu sichten. Es gab viele Meldungen über ein Erdbeben. In einem Land wie der Türkei, das von einer geologischen Verwerfungslinie durchzogen ist, sind Erdbeben nicht so ungewöhnlich. Was aber ungewöhnlich war und mich stutzig gemacht hat: Das Innenministerium hatte keine zwei Stunden nach dem ersten Beben die Alarmstufe vier ausgerufen. Diese beinhaltet den Ruf nach internationaler Hilfe. Mir wurde schnell klar, dass die Regierung mit weitreichenden Folgen des Erdbebens rechnete. Man wusste in Ankara also, dass die staatlichen Hilfsstrukturen nicht reichen würden, um die Erdbebenopfer zu bergen und zu versorgen.
Sie haben kurz nach dem Erdbeben als eine der Ersten öffentlich und in deutlichen Worten die Regierung kritisiert. Warum?
Uns allen ist klar, dass Erdbeben nicht zu verhindern sind. Die Folgen lassen sich aber minimieren. Vorausgesetzt, es gibt ein funktionierendes System. Dieses System gibt es in der Türkei aber nicht – obwohl Experten seit Jahren immer wieder auf Mängel hingewiesen haben. Wider besseres Wissen war das Land nicht auf das Erdbeben vorbereitet. Der staatliche Katastrophenschutz, dessen Leiter ein Theologe und somit nicht vom Fach ist, hat total versagt. Noch Tage nach dem Erdbeben haben manche Menschen keine Zelte und auch sonst fehlt sehr vielen Menschen immer noch das Nötigste.
Figen Çalıkuşu
Canan Topçu
Wie hätte verhindert werden können, dass das Erdbeben solche katastrophalen Folgen hat?
Die Helfer hätten viel mehr Menschen aus den Trümmern retten können, wenn die Hilfsaktionen besser koordiniert worden wären, wenn es vor Ort die erforderlichen Fahrzeuge und Gerätschaften gegeben hätte. Vor allem wären gar nicht so viele Menschen verschüttet worden, wenn man den Vorschriften entsprechend gebaut hätte. Nach dem verheerenden Erdbeben im Jahr 1999 hat die Regierung eine Reihe von Gesetzen und Vorschriften für erdbebensicheres Bauen erlassen. Bauunternehmer haben diese aus Profitgründen ignoriert. Es gibt keine funktionierende Bauaufsicht, dafür aber Korruption, Vetternwirtschaft und Profitgier. Ich sage es in aller Deutlichkeit: Verantwortlich für die verheerenden Ausmaße des Bebens ist an erster Stelle die Regierung. Die Schuld dafür, dass die Gebäude wie Kartenhäuser zusammenbrachen, versucht man nun auf die Bauunternehmer zu schieben. Deren medienwirksame Verhaftung soll uns glauben lassen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Und man versucht, Dokumente verschwinden zu lassen.
Wie das?
In der Provinz Hatay hat der Gouverneur den Abriss eines Verwaltungsgebäudes angeordnet, in dem sich Akten befanden. Man will Dokumente vernichten, die die Machenschaften zwischen Verwaltung und Bauherren belegen. Anders ist nicht zu erklären, warum ausgerechnet dieses Gebäude abgerissen und der Schutt abgetragen werden soll. Das zuständige Ministerium ließ über Twitter wissen, dass die Dokumente in digitaler Form vorhanden seien. Es ist aber kein Geheimnis, dass nicht jedes Schriftstück digitalisiert wird. Die Anwaltsvereinigung ÇHD konnte aber einige der Ordner sicherstellen. Ich habe gegen alle, die den Abriss des Verwaltungsgebäudes angeordnet haben, Strafanzeige erstattet.
Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?
Wir sind traurig und wütend. Wütend, weil uns nicht nur das Erdbeben erschüttert hat, sondern weil der Staat uns im Stich gelassen hat. Wir sind erschüttert über die Unfähigkeit der Regierung, ihrer Aufgabe nachzukommen, ihre Bürger zu schützen und ihnen im Katastrophenfall zur Seite zu stehen. Die Überlebenden des Erdbebens haben nichts mehr zu verlieren. Sie sind mutig und lassen ihren Ärger raus. Regierungsnahe Sender – und das sind ja die meisten, weil es kaum noch freie Medien in diesem Land gibt – berichten aus dem Katastrophengebiet. Wenn eine Person im Interview anfängt, etwas Kritisches zu sagen, wird der Ton abgestellt. Am Montag sprach eine junge Frau, die als medizinisches Personal im Erdbebengebiet arbeitet, live im Fernsehen. Sie ließ ihren ganzen Ärger raus. Der Ton wurde erstaunlicherweise nicht abgestellt. Die Folge war aber, dass sie unmittelbar nach dem Interview Besuch von der Polizei bekam. Die Einschüchterungsversuche wirken aber nicht mehr. Eine Folge des Erdbebens ist, dass es den Menschen die Augen geöffnet hat, um die Misswirtschaft dieser Regierung zu sehen.
Die AKP-Regierung kam drei Jahre nach dem Erdbeben von 1999 an die Macht. Im Mai sind wieder Wahlen in Türkei. Was ist Ihre Prognose?
Wenn Staatspräsident Erdoğan die Verfassung nicht ignoriert, werden die Wahlen am 14. Mai stattfinden. Die wirtschaftliche Situation der Menschen und das Erdbeben werden die aktuelle Regierung zu Fall bringen. Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Armut im Land herrscht. Ich bin zuversichtlich, dass der Staatspräsident und die AKP nicht wiedergewählt werden.
Was muss sich ändern, damit der Rechtsstaat wieder funktioniert?
Ich glaube, dass dieses Erdbeben uns vor allem eines gelehrt hat: dass wir wegkommen müssen von Obrigkeitshörigkeit. Wir müssen lernen, zu hinterfragen und Rechenschaft einzufordern von Politikern und Regierenden. Im Erdbebengebiet sehen wir jetzt, dass die Menschen ohne Angst sprechen und Kritik äußern. Der Verlust ihrer Liebsten sowie von Hab und Gut hat sie mutig gemacht. Ich hoffe, dass wir alle mutiger werden.